Das Prinzip Selbstverantwortung
sich absichern und ohne ein O.K. von oben keine Entscheidung treffen. Man fragte also bei der nächsthöheren |28| Dienststelle nach, was zu tun sei. Diese wollte auch keine Entscheidung treffen und fragte wiederum eine Dienststelle höher nach. So sickerte die Verantwortung immer weiter nach oben bis zum Innenminister NRW, der nun überhaupt keine Kenntnis mehr vom aktuellen Sachstand vor Ort hatte. Währenddessen konnten die Gangster ihre makabre Medienshow vor einem Millionenpublikum abziehen. Einerseits wollten die Diensthabenden vor Ort Verantwortung vermeiden. Andererseits wurde offenbar, dass die Polizeiführung in der Vergangenheit viel dazu getan hatte, damit die Diensthabenden nicht in die Verantwortung gingen.
Verantwortung übernehmen? Da fährt kein befreiter Atem in die Lungen, sondern der Schrecken in die Glieder: »Bloß nicht – ich war doch schon mal 1988 selbst verantwortlich!« Diese Ambivalenz gegenüber der Übernahme von Verantwortung ist verständlich, weil damit oft Schuld und Anklage einhergehen. Denn wer offiziell Verantwortung übernimmt, läuft unter den obwaltenden Bedingungen Gefahr, Schuld zugewiesen zu bekommen.
Viele kennen den großen Verantwortungs-Staubsauger, der immer dann angeschaltet wird, wenn man irgendwo eine Fehlentwicklung zu erblicken meint. Hierarchie fragt nicht: »Wie lösen wir das Problem?«, sondern: »Wer ist schuld?« Ursachenanalyse dient nicht der Ursachenklärung, sondern der kollektiven Ent-Lastung durch individuelle Be-Lastung. Denn kollektive Verantwortung ist juristisch schwer zurechenbar, daher wird Verantwortung wegen der Schuldfähigkeit in der Regel individuell zugespitzt. Ein Beispiel dafür ist der Rücktritt dessen, der die »politische Verantwortung« übernimmt.
Darüber entbrennen Zurechnungskonflikte: Wer hat hier die Schuld? Der andere! Einer von uns muss sich ändern, und bei dir fangen wir an! Die gegenwärtige Outsourcing-Welle ist insofern nützlich, als sie die Palette der »anderen« erweitert.
Gesamtschuldner »Oben«
Die Reaktion? Man manövriert sich in die Unschuldsecke, redet sich auf besondere Umstände, auf »Sachzwänge« hinaus und will |29| dafür Rabatt. »Wieso ich?« Man delegiert schon mal prophylaktisch das Problem nach oben und geht auf Tauchstation. Man erwartet »starke« Führung (was immer das sei), »klare« Entscheidungen, Erlaubnis: »Ist das denn oben gewünscht?« Dort oben wächst dann zwangsläufig der Entscheidungsdruck, man befasst sich mit allem und jedem und ringt sich eine dieser so genannten »Entscheidungen« ab. An der Unternehmensspitze hypertrophiert eine Verantwortungszumutung, die übernehmen soll, was sich die anderen ersparen.
Der Verantwortungsverweigerung zu vieler entspricht komplementär ein Über-Verantwortungsgefühl zu weniger, die meinen, »alles im Griff« haben zu müssen, obwohl sie sich dabei überfordern. »Unten« klagt man dann wieder über zu enge Vorgaben. Denn wer nicht entscheidet, hat meistens gut reden. Von der Tribüne lässt sich bequem urteilen. Die resignativ-kalkulierte Ethik der sauberen Hände durch Passivität verbindet sich mit dem Fingerzeigen auf die, die etwas tun und häufig versagen.
Gesamtschuldner »Oben«: Wenn ich Manager – gleich welcher Ebene – im Seminar mit alternativen Verhaltenweisen konfrontiere, schauen sie häufig in ihrem inneren Monolog nach »hierarchisch oben«, denken an ihren Chef, erleben sich selbst als Mitarbeiter, wünschen sich, dass man sich ihnen gegenüber so verhielte. Sie tauchen gleichsam unter ihrer Führungsverantwortung durch. Einige trauen sich: »Ich bin ja eigentlich ganz falsch hier. Mein Chef müsste hier sitzen.« Habe ich zu einem späteren Zeitpunkt diesen angesprochenen Chef im Seminar, heißt es nach einiger Zeit plötzlich: »Ich bin ja eigentlich ganz falsch hier. Mein Chef müsste eigentlich …« Die Verschiebung der Probleme auf »die da oben« offenbart die Langzeitschädigung durch eine verinnerlichte autoritäre Struktur.
Es ist schwer, das Lied der Selbstverantwortung auf der Leier der Hierarchie zu spielen: denn Hierarchie ent-antwortlicht. »Der Vorstand hat beschlossen, … Ich bin damit auch nicht einverstanden, aber was soll ich machen?« – Das sagt einer, der stiehlt. Sich. Aus der Verantwortung. Er verweist nach oben und verschweigt, dass er »Ja« gesagt hat. Der Mitarbeiter soll die Suppe auslöffeln. Aber wenn die Mitarbeiter das ausführen sollen, dann
ist
der Chef |30| damit
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