Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
Ihr könnt ihn an einer Warze an seinem Kinn und einer kleinen halbmondförmigen Narbe neben dem linken Auge erkennen. Der Bursche am Nachmittag war klein und dunkel, mit einer spitzen Nase und misstrauischen Blicken, keine Narben oder Male, soweit ich sehen konnte, obwohl er einen Ring mit einem rechteckigen Granaten an der linken Hand trug. Er war sparsam mit seinen Worten und sehr darauf bedacht, nichts preiszugeben bei dem Wenigen, was ich mithören konnte, aber er trug einen Dolch, auf dessen Knauf die Vier Monde von Haus Marne waren.«
Hanlon verschränkte die Arme, lehnte sich an den Kamin und hielt das Gesicht reglos, obwohl er die Stirn runzeln wollte. Er war davon überzeugt gewesen, dass der Plan vorsah, Elayne auf den Thron zu helfen, auch wenn das, was danach kam, ein Rätsel geblieben war. Sie war ihm als Königin versprochen worden. Ob sie nun eine Krone trug oder nicht, wenn er sie nahm, war es ihm völlig egal, auch wenn es eine gewisse Würze in die Sache gebracht hätte – dieses langbeinige Miststück sattelgerecht zuzureiten würde das reine Vergnügen sein, selbst wenn sie eine Bauerstochter gewesen wäre, vor allem, nachdem diese Schlampe ihn heute vor all den anderen Frauen heruntergemacht hatte! –, aber Besprechungen mit Sarand und Marne hatten vielleicht zu bedeuten, dass Elayne doch ungekrönt sterben sollte. Vielleicht war er trotz all der Versprechungen, es mit einer Königin treiben zu können, nur auf seinen Posten gelangt, um sie in einem bestimmten Augenblick zu töten, wenn ihr Tod ein bestimmtes Ergebnis zur Folge hatte, auf das Shiaine aus war. Beziehungsweise der Auserwählte, der ihr ihre Befehle gegeben hatte. Moridin hieß der Kerl, ein Name, den Hanlon nie zuvor gehört hatte. Das störte ihn nicht. Wenn ein Mann den Mut hatte, sich als Auserwählter zu bezeichnen, war Hanlon nicht so dumm, ihn infrage zu stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei diesem ganzen Unternehmen nicht mehr als ein Dolch war, gab ihm zu denken. Solange der Dolch seine Arbeit machte, welche Rolle spielte es dann, wenn er dabei zerbrach? Es war viel besser, die Faust am Griff zu sein als die Klinge.
»Habt Ihr gesehen, ob Gold den Besitzer gewechselt hat?«, fragte er. »Habt Ihr etwas gehört?«
»Das hätte ich gesagt«, erwiderte sie schmallippig. »Und unserer Übereinkunft zufolge bin ich jetzt mit einer Frage dran.«
Es gelang ihm, seine Gereiztheit hinter einer erwartungsvollen Miene zu verbergen. Die dumme Gans erkundigte sich immer nach den Aes Sedai im Palast oder nach jenen, die sie Kusinen nannte, oder nach den Meervolk-Frauen. Alberne Fragen. Wer mit wem freundschaftlich umging und wer nicht. Wer sich zu privaten Gesprächen traf und wer sich aus dem Weg ging. Was er aufgeschnappt hatte. Als hätte er nichts anderes zu tun, als in den Korridoren herumzulungern und ihnen nachzuspionieren. Er log sie nie an – das Risiko, dass sie die Wahrheit erfuhr, war zu groß; selbst wenn sie in diesem Haus als Dienerin arbeiten musste, war sie schließlich eine Aes Sedai! –, aber es fiel immer schwerer, Dinge zu finden, die er ihr noch nicht erzählt hatte, und sie bestand darauf, dass er ihr Informationen gab, wenn er welche zu bekommen gedachte. Aber heute hatte er nur ein paar unbedeutende Sachen anzubieten: Vom Meervolk reisten ein paar Frauen ab, und sie alle waren den ganzen Tag herumgelaufen, als hätte ihnen jemand Eiszapfen in die Kragen gesteckt. Damit würde sie sich zufriedengeben müssen. Was er wissen musste, war wichtig, das war kein verdammter Klatsch.
Aber bevor sie ihre Frage stellen konnte, wurde die Hoftür geöffnet. Murellin war groß genug, um fast den Türrahmen zu füllen, aber eisige Kälte schoss herein, ein Windstoß, der das kleine Feuer tanzen ließ und Funken den Schornstein hinaufschickte, bis der große Mann die Tür zustieß. Er schien die Kälte nicht zu bemerken, andererseits sah sein brauner Mantel so dick wie zwei Umhänge aus. Darüber hinaus hatte der Mann nicht nur die Größe eines Ochsen, sondern auch dessen Verstand. Er knallte einen großen Holzbecher auf den Tisch, schob beide Daumen hinter den breiten Gürtel und musterte Hanlon aufgebracht. »Ihr macht mit meiner Frau rum?«, knurrte er.
Hanlon zuckte zusammen. Nicht, weil er vor Murellin Angst hatte, nicht, wenn der Dummkopf auf der anderen Seite des Tisches stand. Was ihn überraschte, war die Aes Sedai, die vom Stuhl aufsprang und die Weinkanne vom Tisch riss. Sie warf Gewürznelken und
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