Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
wartete. Aber das Zelt war nicht leer.
»Ihr habt nur etwas Brot zum Frühstück gegessen, Mutter«, sagte Chesa in leicht vorwurfsvollem Tonfall, als sich Egwene durch die Eingangsplane duckte. Egwenes Leibdienerin, die in ihrem einfachen grauen Kleid fast schon dick wirkte, saß auf dem Hocker des Zelts und stopfte beim Licht einer Öllampe Strümpfe. Sie war eine hübsche Frau, mit einer Spur Grau im Haar, und manchmal hatte es den Anschein, als wäre Chesa schon immer in ihrem Gefolge gewesen statt erst seit Salidar. Auf jeden Fall nahm sie sich alle Freiheiten einer alten Dienerin heraus, einschließlich dem Recht, sie zu schelten. »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, habt Ihr heute Mittag nichts gegessen«, fuhr sie fort und hielt einen schneeweißen Seidenstrumpf hoch, um den Flicken zu überprüfen, den sie an der Ferse machte, »und Euer Abendessen ist vor mindestens einer Stunde auf dem Tisch kalt geworden. Mich hat ja niemand gefragt, aber wenn es jemand täte, würde ich sagen, dass Eure Kopfschmerzen davon kommen, dass Ihr nichts esst. Ihr seid viel zu dürr.«
Und damit legte sie den Strumpf in ihr Nähkörbchen und stand auf, um Egwenes Umhang zu nehmen. Und auszurufen, dass Egwene so kalt wie Eis war. Ihrer Meinung nach ein weiterer Grund für die Kopfschmerzen. Aes Sedai ignorierten eisige Kälte oder dampfende Hitze, aber der Körper spürte sie dennoch. Folglich war es am besten, sich warm anzuziehen. Und rote Unterhemden zu tragen. Jeder wusste, dass Rot am wärmsten war. Essen half auch. Ein leerer Magen führte immer dazu, dass man fror. Man hatte noch nie beobachten können, dass sie fror. Oder?
»Danke, Mutter«, sagte Egwene leichthin, was ein leises, geschnaubtes Lachen auslöste. Und einen schockierten Blick. Trotz aller Freiheiten, die sich Chesa herausnahm, war sie eine Pedantin, die Aledrin locker erscheinen ließ. Jedenfalls im Geiste, und oft auch in der Tat. »Dank Eurem Tee habe ich heute keine Kopfschmerzen.« Vielleicht war es der Tee gewesen. So widerwärtig er auch schmeckte, war er auch nicht schlimmer, als eine Sitzung des Saals zu ertragen, die länger als einen halben Tag dauerte. »Und ich bin wirklich nicht besonders hungrig.«
Natürlich ging das nicht so einfach. Die Beziehung zwischen Herrin und Dienerin war niemals einfach. Man lebte im Ärmel des anderen, und sie erlebte einen in den schlimmsten Augenblicken, kannte alle Fehler und Schwächen. So etwas wie Ungestörtheit vor seiner Leibdienerin gab es nicht. Chesa murrte die ganze Zeit kaum hörbar vor sich hin, während sie Egwene beim Ausziehen half. Als Egwene dann am Ende in einen Morgenmantel gehüllt war – natürlich aus roter Seide, die an den Rändern mit murandianischer Spitze abgesetzt und mit Sommerblumen bestickt war; ein Geschenk von Anaiya –, ließ sie zu, dass die Dienerin das Leinentuch wegzog, das das Tablett auf dem kleinen runden Tisch bedeckte.
Der Linseneintopf in der Schale war eine erstarrte Masse, aber etwas Machtlenken änderte das, und mit dem ersten Löffel entdeckte Egwene, dass sie doch Appetit hatte. Sie aß alles auf, auch das Stück blau geäderten Käse, die etwas verschrumpelten Oliven und die beiden knusprigen braunen Brötchen, obwohl sie aus beiden Kornkäfer pulen musste. Da sie nicht sofort einschlafen wollte, trank sie nur einen Becher von dem gewürzten Wein, der ebenfalls aufgewärmt werden musste und darum etwas bitter war, aber Chesa strahlte zustimmend, als hätte sie das Tablett geleert. Ein Blick auf das Geschirr, das bis auf die Olivenkerne und ein paar Krümel geleert war, machte ihr bewusst, dass sie es tatsächlich getan hatte.
Sobald sie auf ihrer schmalen Pritsche lag, zwei weiche Wolldecken und ein Federbett bis ans Kinn gezogen, nahm Chesa das Tablett, blieb aber am Zelteingang stehen. »Soll ich zurückkommen, Mutter? Falls Ihr wieder Kopfschmerzen bekommt … Nun, diese Frau hat Gesellschaft gefunden, sonst wäre sie längst hier.« In den Worten »diese Frau« lag offene Verachtung. »Ich könnte Euch noch eine Kanne Tee kochen. Ich habe ihn von einem Marketender, der behauptete, er wäre bei Kopfschmerzen unschlagbar. Und auch bei Magenschmerzen und Gelenkschmerzen.«
»Haltet Ihr sie wirklich für ein leichtes Mädchen, Chesa?«, murmelte Egwene. Unter den Decken war es schon warm, und sie fühlte sich schläfrig. Aber sie wollte noch nicht schlafen. Kopf und Glieder und Magen? Nynaeve hätte sich krankgelacht, hätte sie das gehört.
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