Das Rad der Zeit 14. Das Original: Das Vermächtnis des Lichts (German Edition)
weiter von Gawyn halten.
Aviendha kroch wie eine Winterechse auf der Suche nach Wärme über den Felsen. Obwohl ihre Fingerspitzen voller Schwielen waren, fingen sie an, durch die bittere Kälte zu brennen. Am Shayol Ghul war es eiskalt, und die Luft roch, als stiege sie aus einer Gruft empor.
Links von ihr kroch Rhuarc, rechts von ihr ein Steinhund namens Shaen. Beide trugen das rote Stirnband der Siswai’aman . Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, dass ein Clanhäuptling wie Rhuarc dieses Stirnband trug. Er hatte nie darüber gesprochen; als hätte das Stirnband nicht existiert. So war es bei allen Siswai’aman . Amys kroch rechts neben Shaen. Dieses eine Mal hatte keiner Einwände erhoben, dass eine Weise Frau die Späher begleitete. An so einem Ort und zu so einem Zeitpunkt sahen die Augen einer Machtlenkerin möglicherweise das, was normalen Augen entging.
Aviendha zog sich trotz ihrer Halsketten lautlos nach vorn. Auf diesen Felsen wuchs rein gar nichts, nicht einmal Unkraut. Sie befanden sich tief im Verdorbenen Land. Beinahe so tief, wie es nur möglich war.
Rhuarc erreichte den Kamm zuerst, und sie sah, wie er sich anspannte. Sie war die Nächste und spähte über den Felsrand, blieb so niedrig wie möglich, um nicht gesehen zu werden. Ihr Atem stockte.
Sie hatte Geschichten über diesen Ort gehört. Über die riesige Schmiede ganz in der Nähe des Berghangs, den schwarzen Fluss, der daran vorbeiführte. Dieses Wasser war so vergiftet, dass es jeden töten würde, der damit auch nur in Berührung kam. Feuerstellen bedeckten den Talboden wie offene Wunden und röteten den Nebel um sie herum. Als junge Tochter hatte sie mit weit aufgerissenen Augen zugehört, als die uralte Dachherrin von den Kreaturen erzählte, die an den Essen des Schattens schmiedeten, Kreaturen, die weder tot noch lebendig waren. Lautlos und schrecklich bewegten sich die bestialischen Wesen mit leblosen Schritten wie die Zeiger einer tickenden Uhr.
Die Schmiede interessierten sich nicht für die Käfige voller Menschen, mit deren Blut die fast fertigen Klingen gehärtet werden würden. Die Gefangenen hätten genauso gut Eisenbrocken sein können. Auch wenn Aviendha zu weit entfernt war, um das Wimmern der Gefangenen zu hören, fühlte sie sie. Ihre Finger gruben sich fester in den Felsen.
Der Shayol Ghul dominierte das Tal, seine schwarzen Hänge stachen wie ein gezacktes Messer in den Himmel. Die Seiten waren wie die Haut eines hundertmal ausgepeitschten Mannes mit Schnitten übersät; jede Kerbe war ein tiefer Riss, der Dampf ausspuckte. Vielleicht erschuf dieser Dampf den Nebel, der über dem Tal lag. Der Nebel brodelte, als wäre das Tal ein mit einer kochenden Flüssigkeit gefüllter Becher.
»Was für ein schrecklicher Ort«, wisperte Amys.
Noch nie zuvor hatte Aviendha ein solches Entsetzen in der Stimme der Frau gehört. Das ließ sie beinahe noch mehr erschaudern als der eiskalte Wind, der an ihrer Kleidung zerrte. Aus der Ferne tönte ein leises Klirren; die Arbeiter schmiedeten. Aus einem Ofen stieg eine schwarze Rauchwolke in die Höhe, ohne sich aufzulösen. Sie stieg wie eine Nabelschnur in die Wolken am Himmel, die mit furchtbarer Regelmäßigkeit Blitze herabregneten.
Ja, Aviendha hatte Geschichten über diesen Ort gehört. Diese Geschichten hatten aber nicht die ganze Wahrheit verraten. Diesen Ort konnte man nicht beschreiben. Man musste ihn erleben.
Hinter ihnen knirschte es, wenige Augenblicke später schob sich Rodel Ituralde neben Rhuarc. Für einen Feuchtländer bewegte er sich leise.
»Wart Ihr so ungeduldig, dass Ihr unseren Bericht nicht abwarten konntet?«, fragte Rhuarc leise.
»Kein Bericht kommt dem gleich, was ein Mann mit eigenen Augen sieht«, erwiderte Ituralde. »Ich habe nicht versprochen zurückzubleiben. Ich habe euch gesagt, geht voraus. Und das habt ihr getan.« Er hob sein Fernrohr und deckte das vordere Ende mit der Hand ab, obwohl das bei diesen Wolken wohl kaum nötig war.
Rhuarc runzelte die Stirn. Er und die anderen Aiel, die nach Norden gekommen waren, hatten sich bereit erklärt, einem Feuchtländergeneral zu folgen, aber es gefiel ihnen nicht. Aber das war auch gut so. Sie würden diese Sache erledigen, ohne sich dabei zu wohlzufühlen. Sich wohlzufühlen tötete viele Männer.
Es muss reichen, dachte Aviendha und sah wieder ins Tal. Es muss für mein Volk reichen. Es muss für Rand und die Aufgabe reichen, die er vollbringen muss.
Den Untergang ihres Volkes zu
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