Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Carlinyas Schnauben klang unterkühlt.
»Ganz eindeutig«, warf Morvrin ein, »hat uns Gera gesehen. Wird sie sich daran erinnern?« Der Blick aus ihren dunklen, stählernen Augen war nachdenklich. Ihr Kleid, aus einfacher dunkler Wolle gewebt, war das beständigste unter denen der sechs. Einzelheiten änderten sich wohl auch bei ihr, aber so unmerklich, dass selbst Elayne kaum einen Unterschied feststellen konnte.
»Natürlich wird sie das«, sagte Nynaeve beißend. Sie hatte das schon früher erklärt. Sechs Aes Sedai blickten sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und sie mäßigte ihren Tonfall. Ein wenig. Auch sie hasste es, Töpfe ausschrubben zu müssen. »Wenn sie sich an den Traum erinnert, wird sie sich auch daran erinnern. Aber eben nur als Teil eines Traums.«
Morvrin runzelte die Stirn. Sie kam Beonin am nächsten, wenn es darum ging, zu zweifeln und immer gleich einen Beweis zu verlangen. Nynaeves frustriert leidende Miene würde sie in Schwierigkeiten bringen, von ihrem Tonfall ganz abgesehen. Bevor Elayne jedoch etwas anbringen konnte, um die Aufmerksamkeit der Aes Sedai von Nynaeve abzulenken, sagte Leane mit einem beinahe albernen Lächeln: »Glaubt Ihr nicht, dass wir jetzt gehen sollten?«
Siuan schnaubte verächtlich ob dieser Schüchternheit, und Leane richtete einen scharfen Blick auf sie. »Ja, Ihr werdet so viel Zeit wie möglich in der Burg zubringen wollen«, sagte Siuan diesmal auch recht demütig, und nun schnaubte Leane.
Sie spielten ihre Rollen wirklich gut. Sheriam und die anderen kamen nie auf den Gedanken, Siuan und Leane seien mehr als einfach zwei der Dämpfung unterzogene Frauen, die sich an einen Lebenszweck klammerten, der sie vielleicht auch am Leben halten würde, und die sich noch an den Rest dessen klammerten, was sie einst gewesen waren. Zwei Frauen, die sich auf kindische Weise ständig gegenseitig an die Kehlen fuhren. Die Aes Sedai hätten daran denken sollen, dass Siuan schon immer in dem Ruf gestanden hatte, eine willensstarke und schlaue Drahtzieherin zu sein, und für Leane hatte das ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, gegolten. Hätten sie sich als einig erwiesen oder ihre wahren Gesichter gezeigt, dann hätten sich die sechs daran erinnert und sehr genau unter die Lupe genommen, was immer die beiden sagten. Aber uneins und immer bereit, die andere mit ätzenden Bemerkungen in die Enge zu treiben, fast unterwürfig den Aes Sedai gegenüber, und doch schien ihnen das gar nicht bewusst zu sein … Wenn dann die eine gezwungen schien, dem grollend zuzustimmen, was die andere gesagt hatte, verstärkte das den erwünschten Eindruck noch. Genauso wie in dem Fall, dass die eine aus offensichtlichem Trotz der anderen widersprach. Elayne wusste, dass sie alle diesen Aufwand trieben, um Sheriam und die anderen dazu zu bringen, Rand zu unterstützen. Sie hätte allerdings nur zu gern gewusst, was sie sonst noch damit erreichen wollten.
»Sie haben recht«, unterstützte sie Nynaeve energisch, wobei sie Siuan und Leane einen angewiderten Blick zuwarf. Ihre Scheinheiligkeit ärgerte Nynaeve bis zur Weißglut; sie selbst hätte niemals so demütig gespielt, und wäre es um ihr Leben gegangen. »Ihr solltet mittlerweile wissen: Je längere Zeit Ihr hier verbringt, desto weniger real werdet Ihr. Der Schlaf, während man sich in Tel’aran’rhiod aufhält, ist auch nicht so erholsam wie gewöhnlicher Schlaf. Erinnert Euch nun bitte auch daran, dass Ihr sehr vorsichtig sein müsst, wenn Ihr etwas Außergewöhnliches bemerkt.« Sie hasste es wirklich, sich wiederholen zu müssen – diese Tatsache zeigte sich deutlich an ihrem Tonfall –, aber bei diesen Frauen, das gab auch Elayne zu, war es entschieden zu oft notwendig. Wenn es bei Nynaeve nur nicht so klänge, als spreche sie mit geistig minderbemittelten Kindern. »Wenn jemand sich so wie Gera vorhin nach Tel’aran’rhiod hineinträumt und der Traum zu einem Albtraum wird, dann kann sich dieser Albtraum manchmal hier halten, und das ist äußerst gefährlich. Meidet alles, was ungewöhnlich auf Euch wirkt. Und bemüht Euch diesmal, Eure Gedanken unter Kontrolle zu halten. Woran Ihr hier denkt, kann gelegentlich zur Wirklichkeit werden. Dieser Myrddraal, der letztesmal wie aus dem Nichts heraus erschien, war vielleicht ein Überrest aus einem Albtraum, aber ich glaube eher, eine von Euch hat ihre Gedanken zu weit ausschweifen lassen. Ihr habt gerade über die Schwarzen Ajah gesprochen, falls Ihr Euch noch erinnert,
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