Das Raetsel der Liebe
1
London
März 1854
Jede Quadratmatrix ist eine Nullstelle ihres eigenen charakteristischen Polynoms.
Lydia Kellaway hielt ihr Notizbuch fest an die Brust gepresst, als die Kutsche dahinrumpelte. Laut hallte das Klappern der Pferdehufe von der lückenlosen Reihe imposanter Stadtpalais wider, die die Mount Street säumten wie eine Festungsmauer. Der trübe Schein von Gaslaternen brannte sich durch die mitternächtliche Finsternis und bildete auf dem Pflastersteinbelag der Straße schmutzig gelbe Pfützen.
Besorgnis und Angst schnürten ihr die Kehle zu, und sie holte tief Luft, als sie an Nummer zwölf hinaufblickte, in dessen dunkle Fassade die Fenster erleuchteter Zimmer helle Vierecke schnitten. Im ersten Stock zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab. Aufrecht und hochgewachsen stand er da, vollkommen regungslos, wie eingefroren in der Zeit.
Im Schein einer Straßenlaterne öffnete Lydia ihr Notizbuch und blätterte durch die mit unzähligen Notizen, Gleichungen und Diagrammen bedeckten Seiten.
Auf einer dieser Seiten stand sein Name, gefolgt von einer durchnummerierten Liste. Hier waren alle Punkte aufgezählt, die mit dem Gerede und den Vermutungen über seine Familie zusammenhingen.
Während sie ihre Notizen noch einmal durchging, verspürte sie plötzlich ein leichtes Prickeln im Nacken, als würde sie beobachtet. Kopfschüttelnd klappte sie das Notizbuch zu und stieg, sich selbst scheltend ob ihrer Furcht vor den Schatten, entschlossen die Treppe hoch.
Gerade wollte sie nach der Glocke greifen, da wurde die Tür aufgerissen. Eine in leuchtend grüne Seide gekleidete Frau kam aus dem Haus gestürmt und wäre beinahe mit Lydia zusammengeprallt.
»Oh!« Die Frau taumelte mit weit aufgerissenen Augen rückwärts. In dem Licht, das plötzlich aus dem Foyer drang, konnte Lydia sehen, dass ihr Gesicht rot und verquollen und nass von Tränen war.
»Ich … ich bitte um Verzeihung, ich –«
Die Lippen fest zusammengepresst, schüttelte die Frau heftig den Kopf, drängte sich an Lydia vorbei und eilte die Treppe hinunter.
Durch die geöffnete Tür war ein Fluch zu hören. Ein dunkelhaariger Mann durchquerte mit langen Schritten die Eingangshalle. Seine spürbare Anspannung umgab ihn wie eine Aura. »Talia!«
Ohne Lydia auch nur eines Blickes zu würdigen, lief er der Frau hinterher die Treppe hinab. »Herrgott, Talia, so warte doch wenigstens auf die Kutsche!«
Die Frau wandte den Kopf und schleuderte ihm über die Schulter hinweg eine scharfe Erwiderung entgegen, begleitet von einem wütenden Blick. Lydia konnte nicht genau verstehen, was sie sagte, doch ihr schneidender Ton brachte den Mann dazu, abrupt stehen zu bleiben. Wieder stieß er einen Fluch aus. Dann kehrte er zurück zum Haus und rief nach einem Diener, der bereits Sekunden später die Straße hinunter hinter der Frau herrannte.
»John!« Der hochgewachsene Mann rief nach einem zweiten Bediensteten. »Machen Sie sofort die Kutsche fertig und bringen Sie Lady Talia nach Hause!«
Er kam die Treppe hoch und ging an Lydia vorbei, wobei er sie leicht streifte. Beinahe schien es, als würde er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch dann hielt er inne, drehte sich um und starrte sie an: »Wer, zum Teufel, sind
Sie
denn?«
Lydia blieben vor Schreck die Worte im Halse stecken.
Das war er. Alexander Hall, Viscount Northwood. Sie wusste es. Mit jeder Faser ihres Körpers wusste sie, dass dies der Mann war, den sie suchte, obgleich sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Seine Kleidung war trotz der ungewöhnlich späten Stunde und seiner offensichtlichen Verärgerung in tadellosem Zustand. Die Bügelfalten in seiner schwarzen Hose verliefen akkurat und scharf wie Messerklingen. Polierte Goldknöpfe hielten die seidene Weste über dem blütenweißen Hemd zusammen.
Seine dunklen Augen betrachteten Lydia. Dieser Blick – scharf, abschätzend,
eindringlich
– nahm ihr die Luft.
»Nun?«, forderte er.
Jede Quadratmatrix ist eine Nullstelle ihres eigenen charakteristischen Polynoms.
Das Medaillon. Jane. Das Medaillon.
»Lord Northwood?«
»
Ich
hatte gefragt, wer
Sie
sind.«
Sein rauer Bariton ging ihr durch Mark und Bein. Sie neigte leicht den Kopf, um seinem Blick zu begegnen. Scharfe Schatten ließen seine ausgeprägt slawischen Gesichtszüge hervortreten, die schrägen Wangenknochen, die glattrasierte Kinnpartie.
»Mein Name ist Lydia Kellaway«, erwiderte sie und versuchte, jedes Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie sah die
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