Das Raetsel der Liebe
Notizbuch zulegen – schließlich war sie Mathematikerin durch und durch –, aber sie würde ihre Zeit und ihren Verstand nicht mehr länger auf legendäre Beziehungen verschwenden, die tragisch endeten.
Das Leben war viel zu wertvoll, die Liebe viel zu kostbar, um sie zu messen. Sie wandte sich ab und wischte eine einzelne, verirrte Träne weg. Als Alexander ihr vor all diesen langen Wochen zum ersten Mal die Tür geöffnet hatte, hatte sie sich nicht vorstellen können, wie viele andere Türen sich ebenfalls öffnen würden. Ohne ihn hätte sie niemals den Mut aufgebracht, wieder nach vorn zu schauen. Nicht in der Mathematik. Nicht im Leben. Und ganz gewiss nicht in der Liebe.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, seinen Vorschlag anzunehmen und ihre Ideen einem breiten Fachpublikum zu präsentieren, zum Beispiel ihr Primzahlen-Theorem oder das Lemma von …
Oh, Lydia. Hör endlich auf, dich zum Narren zu machen. Weißt du nicht mehr, was du Alexander immer gesagt hast?
Entschlossen stand sie auf, strich ihre Röcke glatt und ging nach oben in den Unterrichtsraum. Jane stand am Fenster, neben ihrem Farn, in der Hand ein Gerät aus Metall, während Mrs Boyd damit beschäftigt war, die Bücher ihrer Enkelin zu ordnen.
»Er sieht richtig gut aus.« Lydia blieb stehen, um den Farn in Augenschein zu nehmen. Die Pflanze war in den letzten Wochen wieder üppig gewachsen und zeigte ein gesundes Grün. »Was ist das?«
»Es erzeugt einen feuchten Nebel. Damit sprühe ich die Wedel ein. Lord Rushton hat mir gezeigt, wie ich den Farn pflegen muss.« Jane stülpte die Glasglocke wieder über die Pflanze und wandte sich Lydia zu. »Was machst du hier?«
»Ich dachte, wir könnten noch einmal die lange Division durchgehen.«
»Eigentlich habe ich jetzt etwas anderes zu tun.« Jane stellte den Pflanzenbefeuchter auf dem Fensterbrett ab und ging aus dem Zimmer.
»Geht es ihr gut?«, fragte Lydia ihre Großmutter.
»Soweit ich weiß, ja. Warum?«
»Nun, ich habe sie kaum gesehen, seit ich aus Floreston Manor zurück bin.« Lydia runzelte die Stirn. »Meinst du, sie ist böse auf mich, weil sie nicht mitkommen konnte?«
»Das glaube ich nicht.« Mrs Boyd klopfte sich den Bücherstaub von den Händen. »Ich habe ihr vorgeschlagen, dich zu begleiten, wenn du das nächste Mal fährst.«
Lydias Herz setzte einen Moment lang aus. »Was … wie kommst du darauf, dass es ein nächstes Mal geben wird?«
»Natürlich wird es das.« Ihre Großmutter stapelte ein paar Bücher auf dem Schreibtisch übereinander. Dann bückte sie sich, um einige gefaltete Blätter aufzuheben, die heruntergefallen waren. »Lord Northwood hat dich sicher nicht auf seinen Landsitz eingeladen, weil er eure Beziehung beenden wollte.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Oder etwa doch?«
Lydias Kehle war wie zugeschnürt. Sie schüttelte den Kopf.
»Nun gut.« Mrs Boyd warf einen kurzen Blick auf die losen Blätter und legte sie wieder ins Regal. »Ich muss schon sagen, Lydia, ich hätte im Traum nicht gedacht, wie sich die Dinge entwickeln würden, als du dorthin gingst, um das Medaillon zurückzuholen. Hast du es eigentlich schon wieder?«
»Noch nicht.«
»Gut. Ein Grund mehr, die Bekanntschaft mit Seiner Lordschaft zu pflegen.« Mrs Boyds Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Hätte ich vorher gewusst, was passiert, hätte ich das alberne Ding vielleicht schon vor Jahren verpfändet.«
Sie nahm den Stapel Bücher auf den Arm und verließ den Raum. Lydia ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, auf die Kutschen und die Fußgänger, die am Haus vorbeikamen.
Sie konnte ihrer Großmutter beim besten Willen nicht böse sein. Charlotte Boyd hatte trotz all ihrer kleinen Manipulationen immer nur das Beste für Lydia gewollt. Wie Alexander hatten auch sie und ihr Vater immer an Lydias Intelligenz und Fähigkeiten geglaubt und waren überzeugt gewesen, dass sie der Welt etwas Wichtiges zu geben hatte.
Einen Unterschied gab es allerdings: Alexander wollte, dass sie auch selbst an sich glaubte. Weil er sie liebte. So, wie sie noch niemals zuvor geliebt worden war, auf eine Weise, von deren Existenz sie noch nicht einmal etwas geahnt hatte.
Verlangen durchzuckte ihren Körper, schnitt durch die dicken Schichten ihrer Abwehr. Sie konnte einfach nicht aufhören, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn all ihre Wünsche in Erfüllung gingen.
Sie ließ sich auf einen Stuhl neben dem Fenster sinken und
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