Das Raetsel der Liebe
hier ist eine einmalige Chance, Lydia, vielleicht die einzige, dieses klägliche Dasein, das du führst, zu beenden. Du hast ja noch nicht einmal mehr deine Arbeit, hab ich recht? Es ist nicht gerade das Leben, das du dir erträumt hast, oder? Willst du wirklich die nächsten zwanzig Jahre so verbringen, versteckt vor der Welt, und dahinwelken ins Nichts?«
»Wie kommst du darauf, dass eine Heirat mit Northwood das verhindern würde?«
»Du hättest zumindest ein angenehmes Leben, Lydia! Gewiss, er hat ein paar Schwierigkeiten, aber noch vor zwei Monaten hättest du dir nicht mal vorstellen können, in solch eine Position zu kommen. Grundgütiger, er ist ein Viscount! Er hat Vermögen. Stell dir doch mal vor, was du alles tun könntest, wenn er es dir gestattet!«
Das war ja das Schreckliche: Lydia konnte es sich vorstellen. Eigentlich hatte sie seit Alexanders erstem Antrag an kaum etwas anderes gedacht.
Sie hatte sich ausgemalt, wie sie mit Talia an einem Bildungsprogramm für die Armenschulen arbeiten würde und an einem Lehrplan für Mathematik in Mädchenschulen. Sie konnte sich auch vorstellen, Gouvernanten beizubringen, wie man am besten die Vermittlung mathematischer Kenntnisse anging. Sie konnte sich vorstellen, Symposien zu organisieren, Vorträge zu halten und die finanziellen Mittel dafür zu beschaffen. Sie konnte sich sogar an Alexanders Seite in der Königlichen Gesellschaft sehen – bei der Ausstellung neuer Erfindungen, der Verleihung von Stipendien und Auszeichnungen, der Mitarbeit in Bewertungskommissionen.
Und natürlich konnte sie sich auch ihn selbst vorstellen – mit ihm zu reden, ihn zu berühren, ihn zu küssen, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren, auf ihrer Haut.
Wann immer sie es wollte. Die ganze Zeit. Ohne Vorbehalte. Die Vorstellung, dass all dies in ihrer Zukunft liegen könnte, rief ein Verlangen in ihr wach, so tief, so scharf, dass es ihr fast den Atem nahm.
»Ist es das, was du wolltest?« Die Stimme ihrer Großmutter kam aus größerer Nähe.
Lydia wandte sich um und sah sie an. Sie blickte in Augen so blau wie ihre eigenen, so blau wie die ihrer Mutter. Mrs Boyds Miene wurde sanfter, spiegelte Bedauern. Sie legte eine Hand an Lydias Wange.
»Hast du tatsächlich erwartet, dass dein Leben eine solche Wendung nehmen würde?«, fragte sie noch einmal.
Lydia schluckte schwer, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Ihr Herz zog sich erneut schmerzhaft zusammen. »Was wird aus dir, wenn ich seinen Antrag annehme? Was ist mit Jane?«
»Oh Lydia.« In den Augen ihrer Großmutter schimmerten Tränen. »Wir werden hier sein. Wir werden immer hier sein. Du wirst Jane genauso oft sehen wie jetzt, wenn nicht sogar öfter. Und glaubst du wirklich, an Janes Gefühlen für dich wird sich auch nur das Geringste ändern, wenn du mit Lord Northwood verheiratet bist?«
Nun konnte Lydia ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömten so schnell, dass sie das Salz auf ihren Lippen schmecken konnte. Sie ergriff die Hand ihrer Großmutter, die immer noch an ihrer Wange lag. »Wie könnte ich es ihm verschweigen?«
»Du wirst es können.« Die Antwort war so einfach, und doch so kompliziert, so verwickelt. »Niemand wird es jemals erfahren.«
»Alles würde sich verändern«, flüsterte Lydia.
»Nur zum Besseren.«
»Ich habe bereits Nein gesagt.« Sie versuchte mit aller Kraft, ihren Entschluss aufrechtzuerhalten, doch sie spürte, wie ihr Widerstand erlahmte, wie die Mauer aufbrach und das Licht einer möglichen neuen Zukunft durch die entstehenden Risse drang. Die Schatten würden immer da sein, doch vielleicht würde die Helligkeit jetzt endlich die Oberhand gewinnen.
Wenn sie es zuließ.
»Lord Northwood sagte mir, sein Angebot stünde noch eine Woche«, sagte Mrs Boyd. »Er
will
dich heiraten, Lydia. Sonst hätte er dich nicht gefragt. Du darfst diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Und wenn schon nicht für dich, dann tu es für Jane. Tu für sie, was deine Eltern für dich nicht tun konnten.«
Das Licht einer Kerze flackerte durch die Dunkelheit. Lydia näherte sich dem Bett, in dem Jane tief in ihren Kissen vergraben lag und die tanzenden Schattenmuster an der Decke anstarrte.
Sie betrachtete das Mädchen lange schweigend. Das rundliche Kindergesicht, die weichen, vollen Lippen und die dunklen Augenbrauen erinnerten nicht im Geringsten an Theodora Kellaway. Und so sehr sich Lydia auch wünschte, die Dinge zwischen ihr und ihrer Mutter wären anders
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