Das Rätsel
zu erkennen, aus dem die Angst sprach davor, was sie gerade über sich selbst lernten.
Diana geriet darüber fast in Panik. »Susan!«, rief sie in scharfem Ton. »Steck diese Bilder weg! Und hört sofort auf, nur noch über …« Sie sprach nicht weiter. Sie merkte, dass sie nur noch über genau das reden
konnten
, was ihr solche Angst einjagte.
Susan griff nach den Fotos und den Akten der toten Mädchen und machte sich langsam daran, sie aufzusammeln und in braune Umschläge zu stecken, die Dokumente jeweils zu den passenden Bildern. Sie war betrübt, betroffen und besorgt, auch wenn sie nicht recht wusste, worüber.
Sie griff nach dem letzten Foto und steckte es in die passende Mappe. »So, Mutter, das war’s.« Dann drehte sie sich mit einem wilden Blick zu ihrem Bruder um und fühlte sich plötzlich wie gelähmt vor Angst.
Er sah sie, und im selben Moment traf ihn genau die gleiche Angst.
Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, und Jeffrey sah förmlich, wie es fieberhaft in ihr arbeitete.
Dann drehte Susan sich um und fing an zu zählen. »Da stimmt was nicht, da stimmt was nicht, Jeffrey, oh mein Gott …« Sie stöhnte.
»Was ist?«
»Zweiundzwanzig Fallakten. Zweiundzwanzig junge Frauen entweder tot oder verschwunden.«
»Richtig. Und?«
»Neunzehn Namen auf dem Brief.«
»Ja. Statistisch hatte ich immer geschätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der Toten oder Vermissten auf normalem Wege, bei wirklichen Unfällen ums Leben gekommen sind …«
»Jeffrey!«
»Tut mir leid. Ich soll das Dozieren lassen. Geht klar. Was siehst du?«
Susan schnappte sich energisch den Brief auf der Schreibtischplatte. Sie stöhnte. »Nummer neunzehn«, flüsterte sie und krümmte sich, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. »Der Name direkt über deinem.«
Jeffrey sah sich den Namen und die Zahl daneben an. »Oh nein«, rief er und griff hastig nach den Akten, um sie durchzublättern.
»Was habt ihr?«, wollte Diana wissen, und aus ihrem Ton war jetzt dieselbe Angst herauszuhören, die bereits an den beiden anderen zerrte.
Jeffrey wandte sich an seine Mutter. Aus seinen Worten sprach eine kalte, harte Bitterkeit.
»Der neunzehnte Name ist nirgends in diesem Stapel. Und das Datum ist dreizehn Punkt elf. Kein Jahr. Das ist heute. Als Ort ist einfach nur
Abode Street
angegeben. Ich habe das nicht gesehen«, sagte er, und seine Unterlippe zitterte ein wenig, »weil ich nur Augen für meinen eigenen Namen hatte, der als nächster kommt.«
21. KAPITEL
Vermisst
Jeffrey und Susan standen an der Ecke der Abode Street in einer kleinen Gemeinde namens Sierra, etwa anderthalb Stunden nördlich von New Washington. Ein Fahrer von der Staatssicherheit lehnte einen halben Häuserblock entfernt an einem Wagen und sah ihnen dabei zu, wie sie die Straße in beide Richtungen absuchten. Für einen Moment hatte Jeffrey sich gefragt, ob dieser Agent der neue Auftragskiller sei, der ihnen wie ein Schatten folgen sollte, um den richtigen Moment abzupassen, in dem er ihren Vater in die Schusslinie bekam. Doch er bezweifelte es. Der Ersatzkiller wird im Verborgenen arbeiten, dachte er. Versteckt und anonym. Er würde ihnen folgen und seine Chance abpassen, um aufzutauchen. Vermutlich waren solche Fähigkeiten im Einundfünfzigsten Bundesstaat eher rar gesät, auch wenn es in den übrigen Staaten ein Überangebot gab. In dem neuen Gebilde verfügte die Polizei eher über Bürohengste, die den Kugelschreiber und keine Knarre schwingen konnten. Deshalb, vermutete er, wog der Verlust von Agent Martin schwer.
Er wirbelte herum, als könne er irgendwo den Doppelgänger des Agenten in einer Ecke lauern sehen. Er entdeckte jedoch niemanden, womit er eigentlich auch gerechnet hatte. Manson war nicht der Mann, der denselben Fehler zweimal machen würde.
Ein paar Meter von Bruder und Schwester entfernt standenlediglich ein Mann und eine Frau mittleren Alters. Sie scharrten nervös mit den Füßen, während sie unverwandt auf die Claytons starrten, ohne miteinander zu sprechen. Es handelte sich um den Direktor und seine Stellvertreterin der Highschool von Sierra. Der Mann war eine Karikatur seiner Spezies: klein, mit runden Schultern, Stirnglatze und der nervösen Angewohnheit, sich ständig die Hände zu reiben, als wären sie kalt. Dazu räusperte er sich immerzu, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ohne andererseits ein Wort zu sagen; gelegentlich warf er dem Polizisten einen Blick zu, als wollte er ihm erklären,
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