Das Rätsel
›Kompromiss von 1850‹. Und was ist mit dem Lesesaal? Sie ist in der Oberstufe, nicht wahr? Musste sie denn da sein?«
»Nein. Sie war auf der Liste der Vertrauensschüler. Für die ist die Stillarbeit nicht obligatorisch …«
»Demnach könnte sie später als das Gros der Schüler gekommen sein?«
»Heute ja. Da waren so ziemlich alle anderen schon im Unterricht.«
»Sagen Sie, gab es Reparaturarbeiten? Welche Handwerker waren in der Schule?«
»Heute werden im Spindraum der Jungen die Wände gestrichen. Wir mussten den Kindern eine Nachricht schicken, dass der Spindraum für heute geschlossen bleibt. Bis die Farbe trocken ist. Damit keiner reinkommt. Die Malerutensilien stehen in der Hausmeisterei in der Schule.«
Susan blickte zu ihrem Bruder hinüber und sah, dass jede Bemerkung ihn traf wie ein Stilett – jedes Wort war ein schmerzhafter Stich: das Zusammenspiel kleiner Details, die sich unerbittlich zu einer Gelegenheit für den Mörder zusammenfügten. Sie selbst empfand dagegen nur kalte Wut, als ob jede neue Information dem Zorn in ihrem Innern neue Nahrung gäbe. Es war genauso wie das Gefühl, das in ihr hochgekocht war, als sie die Bilder der ermordeten jungen Frauen angestarrt hatte.
»Also«, schaltete sich Jeffrey in die Unterhaltung ein, »was passierte, nachdem sie nicht aufgetaucht war?« Sein Ton klang ein wenig hart.
»Nun, ich bin erst in der Mitte des Vormittags dazu gekommen, die Abwesenheitsmeldungen durchzugehen«, berichtete die stellvertretende Direktorin. »Die übliche Verfahrensweise sieht einen Anruf bei den Eltern vor, falls ein Schüler sich bis dahin nicht schon von sich aus gemeldet hat. Kurz vor Mittag hab ich bei den Lewis’ zu Hause angerufen …«
»Aber es hat sich niemand gemeldet, richtig?«
»Beide Elternteile arbeiten, und ich wollte sie nicht im Büro stören. Ich dachte, ich bekomme Kim ans Telefon. Ich nahman, sie sei krank. Bei uns ging eine Grippe um, hat die Kinder wirklich schlimm erwischt. Meistens schlafen sie sich einfach gesund …«
»Aber es ging keiner ran, richtig?«, hakte Jeffrey eindringlicher nach.
Die Direktorin sah ihn ärgerlich an. »Korrekt.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Nun, ich dachte, ich versuche es später noch mal, wenn sie aufgewacht ist.«
»Haben Sie bei der Staatssicherheit angerufen und dort gemeldet, dass eine Schülerin vermisst wird?«
Die Direktorin beugte sich mit einem Ruck nach vorn. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mr. Clayton: Wieso sollten wir das tun? Unentschuldigtes Fehlen ist keine Sicherheitsfrage, sondern eine Frage der Disziplin. Die intern geregelt wird.«
Jeffrey zögerte, doch seine Schwester antwortete für ihn.
»Es kommt drauf an, um was für eine Art von unentschuldigtem Fehlen es sich handelt«, schränkte sie bitter ein.
»Also«, schnaubte die Direktorin, »Kimberly Lewis gehört nicht zu den Schülerinnen, die sich in Schwierigkeiten bringen. Sie ist eine erstklassige Schülerin und sehr beliebt …«
»Hat sie Freunde? Einen Freund?«, fragte Susan.
Zuerst zögerte die Direktorin. »Nein. Keinen Freund. Dieses Jahr nicht. Sie ist durch und durch ein gutes Mädchen. Wahrscheinlich auf dem Weg zu einem Spitzencollege.«
»Jetzt nicht mehr«, murmelte Susan so leise, dass es nur ihr Bruder hören konnte.
»Letztes Jahr hatte sie einen Freund?«, fragte Jeffrey plötzlich neugierig.
Die stellvertretende Direktorin zögerte wieder. »Ja. Letztes Jahr schon. Sie hatte eine intensive Beziehung von der Art, von der wir eher abraten. Glücklicherweise war der fraglichejunge Mann eine Klasse über ihr. Er ging ans College, und die Beziehung brach damit ab, nehme ich an.«
»Sie mochten den Jungen nicht?«, vermutete Jeffrey.
Susan drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Und wenn schon?«, flüsterte sie ihm zu. »Wir wissen doch, was hier passiert ist, oder?«
Jeffrey bat die Direktorin mit der erhobenen Hand um eine Pause, nahm seine Schwester am Ellbogen und trat mit ihr ein Stück zur Seite. »Ja«, pflichtete er leise bei, »wir wissen, was hier passiert ist. Aber wann hat er sich dieses Mädchen ausgesucht? Auf welchem Wege hat er seine Informationen eingeholt? Vielleicht weiß der Exfreund etwas. Vielleicht war die Beziehung, von der die Direktorin meint, sie hätte sich aufgelöst, noch gar nicht vorbei. Jedenfalls könnten wir hier ein bisschen tiefer nachhaken.«
Susan nickte. »Ich bin ungeduldig«, sah sie ein.
»Nein«, erwiderte ihr Bruder, »du bist nur
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