Das Rätsel
Können wir dazu auch eine Liste bekommen?«
Jeffrey hatte sich an den Computer gesetzt. »Das dürfte kein Problem sein«, vermutete er.
Susan griff nach dem Ausdruck mit den Angestellten der Staatssicherheit. Sie fing mit der ersten Seite oben an, doch dann hörte sie plötzlich auf. Sie legte den Ausdruck beiseite und nahm den Brief zur Hand, der am Morgen eingetroffen war. Ihr Blick schweifte über die Bilder der toten Frauen. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, wiederholte sie. »Das spüre ich.«
Sie sah abwechselnd ihre Mutter und ihren Bruder an. »Ich täusche mich bei so etwas nicht«, versicherte sie. »Es ist wie bei diesen alten Bilderrätseln in Kinderzeitschriften, wo es heißt, ›Was stimmt hier nicht?‹, ihr wisst schon, wo der Clown zwei linke Füße hat oder der Footballspieler hält einen Baseball in der Hand.«
Wieder ging sie die Fotos der Toten durch. »Ich irre mich bei so was nie«, bekräftigte sie.
Jeffrey drückte ein paar Computertasten, und auf einem anderen Tisch spuckte der Drucker eine andere Liste aus, diesmal von Autos. Dann drehte er sich zu seiner Schwester um.
»Was siehst du denn?«, fragte er.
»Es ist alles ein Rätsel, oder?«, wiederholte sie.
»Das gilt für jedes Verbrechen. Für Wiederholungstaten erst recht.«
»Die Position der Leichen«, wollte Susan wissen, »wieso ist die wichtig?«
»Ich weiß nicht. Schnee-Engel. Wenn Mörder derart großen Wert darauf legen, wie ihre Verbrechen wahrgenommen und ausgelegt werden, hat das fast immer einen besonderen psychologischen Hintergrund. Mit anderen Worten, es bedeutet etwas …«
»Schnee-Engel. Die Art, wie sie jeweils drapiert worden waren, hat dich auf den Plan gerufen, richtig?«
»Ja.«
»Und das hat zu Spekulationen geführt, auch richtig? Hast du nicht einige Zeit darauf verwendet zu entziffern, was mit der Position gemeint war?«
»Ja. Meine ersten Wochen hier. Das war ein wichtiger Grund, weshalb ich nicht glauben konnte, dass …«
»Und dann ist eine Leiche plötzlich …«
»Die war praktisch genau anders herum. Wie ein kleiner Test.«
Susan wippte auf ihrem Stuhl zurück und blickte noch einmal zu den toten Frauen. »Es hat nichts zu bedeuten, und es bedeutet alles.« Mit einer abrupten Bewegung drehte sie sich zu ihrer Mutter um. »Du hast ihn gekannt. Besser als jeder andere. Schnee-Engel. Junge Frauen, die ausgestreckt werden, als wären sie gekreuzigt? Hat er jemals …« Sie brachte es nicht über sich, die Frage ganz auszusprechen.
Diana wusste, was sie meinte. »Nein, dazu fällt mir nichts ein. Wenn wir zusammen waren, war es immer kalt und ohne Leidenschaft. Und schnell. Wie eine Pflichtübung. So wie man eine Arbeit zu Ende bringt. Ohne Vergnügen.«
Jeffrey machte schon den Mund auf, als wollte er etwas erwidern, doch dann überlegte er es sich anders. Er sah sich noch einmal die Bilder an und trat neben seine Schwester. »Vielleicht hast du recht. Es könnte ein Täuschungsmanöver sein.«
Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken, der ihm kam, von sich weisen, was ihm aber nicht gelang. »Das wäre allerdings ziemlich schlau«, überlegte er. »Jeder Detective – oder auch Psychologe – musste von dieser besonderen Art, wie die Opfer lagen, geradezu besessen sein. Wir sind dazu ausgebildet zu analysieren. Es würde unser Denken beherrschen, gerade weil es ein Rätsel ist, und wir sähen uns gezwungen, es zu lösen …«
Susan nickte. »Und jetzt nimm mal an, die Lösung wäre, dass das, was uns so wesentlich erscheint, in Wahrheit gar nichts zu bedeuten hat.«
Jeffrey holte tief Luft. »Ich hasse das alles«, erklärte er und betonte jedes Wort. Er schloss die Augen. »Die Zeigefinger, das ist alles, was er wirklich wollte. Das genügte ihm, um sich daran zu erinnern. Für ihn ist die Tat als solche wichtig. Das Übrige ist einfach nur Teil der Verschleierungstaktik.«
Jeffrey atmete in einem langen Pfeifton aus und legte seiner Schwester die Hand auf den Arm. »Wir können das, siehst du?«
»Können was?«, fragte Susan. Ihre Stimme war plötzlich unsicher, da sie im selben Moment sah, was ihr Bruder meinte.
»Denken wie er«, erwiderte Jeffrey.
Diana schnappte nach Luft. Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ihr seid meine Kinder«, widersprach sie. »Nicht seine. Vergesst das nie.«
Jeffrey und Susan drehten sich beide zu ihrer Mutter um und versuchten, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. Doch in ihren Augen war ein schwaches Flackern
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