Das Rätsel
ihre Mutter Atem holte, und beschloss in diesem Moment, Stärke zu demonstrieren, auch wenn sie aufgesetzt war. Natürlich würde ihre Mutter das durchschauen, doch es würde ihr trotzdem helfen, Ruhe zu bewahren.
»Macht es dir Angst, Mutter?«
»Ja«, bestätigte Diana.
»Wieso?«, fragte die Tochter. »Ich weiß nicht, warum, aber mir geht es nicht anders. Dabei gibt es nichts Bedrohliches. Es gibt keinerlei Anhalt dafür, dass wir es nicht mit jemandem zutun haben, der ein intellektuelles Spielchen treiben will. Das wäre nicht das erste Mal.«
»Was stand in der ersten Nachricht?«
»
Ich habe dich gefunden
.«
Diana hatte das Gefühl, als würde sie tief in ihrem Innern in ein Loch gesogen, ein gewaltiger Strudel, der sie zu verschlingen drohte. Sie sperrte sich dagegen, sagte sich, dass bis jetzt noch nichts erwiesen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie über fünfundzwanzig Jahre unbehelligt geblieben war – unentdeckt; derjenige, vor dem sie sich und ihre Kinder versteckt hatte, war, so hatte sie gehört, tot. Und deshalb kam Diana in einer wahrscheinlich übereilten Einschätzung der Lage zu dem Schluss, dass die Nachrichten wohl genau das waren, was sie zu sein schienen: der etwas abwegige Versuch eines allzu glühenden Fans ihrer Tochter, auf Teufel komm raus auf sich aufmerksam zu machen. Das konnte für sich schon gefährlich sein, und so schwieg sie sich über ihre tiefsitzenden, alten Ängste aus, um die Vergangenheit ruhen zu lassen. Tot. Er ist tot. Es war Selbstmord, hämmerte sie sich ein. Als er sich das Leben nahm, hat er dich befreit.
»Wir sollten deinen Bruder anrufen«, meinte sie.
»Wozu?«
»Weil er gute Beziehungen zu Strafvollzugsbehörden hat. Vielleicht kennt er jemanden, der diesen Brief analysieren kann. Auf Fingerabdrücke untersuchen oder sonst wie testen. Um uns irgendetwas darüber zu erzählen.«
»Ich schätze, dass derjenige, der uns das schickt, daran gedacht hat. Außerdem hat er kein Gesetz übertreten. Jedenfalls bis jetzt nicht. Ich denke, wir sollten warten, bis ich die ganze Nachricht ausgetüftelt habe. Dauert bestimmt nicht lang.«
»Also«, sagte Diana ruhig, »eins wissen wir schon jetzt.«
»Was denn?«
Die Mutter starrte die Tochter an, als sei sie mit Blindheit geschlagen.
»Die erste Botschaft hat er in den Briefkasten eingeworfen. Und diese hier hast du wo gefunden?«
»An der Haustür.«
»Das sagt uns jedenfalls, dass er immer näher kommt, meinst du nicht?«
6. KAPITEL
New Washington
Der westliche Himmel besaß einen metallischen Schimmer, wie auf Hochglanz polierter Stahl – eine unendliche, kalte, klare Weite. Für einen Moment legte er zum Schutz die Hand über die Augen.
»Man gewöhnt sich dran«, versicherte Robert Martin in beiläufigem Ton. »Um diese Jahreszeit hat man hier draußen manchmal das Gefühl, als ob einen Scheinwerfer blendeten. Man blinzelt ständig zum Horizont.«
Jeffrey Clayton antwortete nicht sofort, sondern ließ stumm den Blick über die Phalanx moderner Bürogebäude schweifen, die sich links und rechts in einigem Abstand von dem breiten Highway aneinanderreihten. Sie waren alle verschieden und doch gleich: großzügig angelegte Rasenflächen mit Baumgruppen dazwischen; leuchtend blaue Teiche und Wasserbecken, in denen sich der Himmel spiegelte, vor soliden Bauten, die mehr von den Geldern kündeten, die in sie geflossen waren, als von der schöpferischen Kraft der Architekten – eine Verschmelzung von Funktion und Kunst, die wenig Zweifel daran ließ, was den Vorrang hatte.
Je länger er die städtische Umgebung betrachtete, desto deutlicher fiel ihm ins Auge, wie neu alles war. Wie wohlgeformt, geordnet und ausgewogen. Alles war sauber. Er sah die Logos einer großen Firma nach der anderen. Kommunikationswesen, Unterhaltung, Industrie. Eine eindrucksvolle Fortune-500-Parade.Wer in diesem Land viel Geld verdient, dachte er, ist hier vertreten.
»Wie heißt diese Straße?«, fragte er.
»Freedom Boulevard«, erwiderte Agent Martin.
Jeffrey konnte sich angesichts der Ironie des Namens ein verhaltenes Schmunzeln nicht verkneifen. Es herrschte nicht viel Verkehr, und sie fuhren in einem stetigen, gemächlichen Tempo. Er vertiefte sich weiter in seine Umgebung und fand, dass dieser neue Glanz etwas Steriles hatte.
»War das nicht mal alles Wüste?«, überlegte er laut.
»Ja«, bestätigte Martin. »Im Wesentlichen Buschgras, ausgetrocknete Flussläufe und Steppenläufer. Noch vor einem Jahrzehnt
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