Das Rätsel
Susan energisch: »Mutter!«
Diana Clayton stand am Herd und rührte in einem Töpfchen Hühnerbrühe. Sie hörte zwar die Stimme ihrer Tochter, aber nicht den beunruhigten Ton, und so antwortete sie sachlich: »Hier drinnen, Schatz«, worauf prompt der zweite Ruf vom Eingang folgte: »Mutter!«
Und so wiederholte sie ein wenig lauter und einen Hauch gereizt: »Hier drinnen.« Es tat zwar nicht weh, die Stimme zu erheben, aber es kostete sie mehr Kraft, als sie erübrigen konnte.
Sie ging sorgsam mit ihren Kräften um und hasste jede unnötige Energieverschwendung, denn sie wusste, dass sie immer dann, wenn die Schmerzen sie überfielen, alle Reserven mobilisieren musste. Es war ihr gelungen, sich bis zu einem gewissen Maß mit ihrer Krankheit zu arrangieren, doch es kam ihr so vor, als benähme sich der Krebs allzu oft wie ein Winkeladvokat, der sie betrog und immer mehr verlangte, als sie zu geben bereit war. Während ihre Tochter durch das kleine Haus Richtung Küche stapfte, nahm sie einen Schluck von der Brühe.
Sie lauschte auf Susans Schritte und musste unwillkürlich denken, dass sie aus dem Geräusch, das sie machten, genau die jeweilige Stimmung ihrer Tochter ablesen konnte, und so hatte sie, als Susan den Raum betrat, bereits eine Frage auf den Lippen: »Susan, mein Schatz, was ist los? Du klingst verärgert. Beim Angeln kein Glück gehabt?«
»Nein«, erwiderte ihre Tochter. »Doch, das ist es nicht. Hör zu, Mutter, hast du heute irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört? Ist jemand da gewesen?«
»Nur der Mann wegen der Klimaanlage, Gott sei Dank. Ich habe ihm einen Scheck gegeben. Ich hoffe, er platzt nicht.«
»Sonst noch jemand? Hast du etwas gehört?«
»Nein. Aber ich habe heute Nachmittag ein Nickerchen gehalten. Weshalb fragst du?«
Susan schwieg einen Moment und überlegte, ob sie etwas sagen sollte, bis ihre Mutter energisch drängte: »Dich bedrückt doch was. Behandle mich nicht wie ein Kind. Ich mag zwar krank sein, aber ich bin nicht debil. Was ist los?«
Susan zögerte noch eine Sekunde, bevor sie erwiderte: »Heute ist ein zweiter Brief hier abgegeben worden. Wie der letzte Woche im Briefkasten. Keine Unterschrift. Keine Adresse. Er lag an der Haustür. Das macht mir zu schaffen.«
»Noch einer, sagst du?«
»Ja. Ich habe in meiner normalen Spalte eine Antwort drucken lassen, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass der Kerl sie so schnell löst.«
»Was hast du ihn denn gefragt?«
»Ich wollte wissen, wer er ist.«
»Und seine Antwort?«
»Hier. Lies selbst.«
Diana nahm das Blatt, das Susan ihr hinschob. Sie stand am Herd und überflog den Inhalt. Dann legte sie den Brief langsam beiseite und drehte das Gas ab, auf dem ihre Brühe dampfte. Sie holte tief Luft.
»Und was will er diesmal?«, fragte sie beherrscht.
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe auch erst einen Blick draufgeworfen.«
»Ich glaube«, sagte Diana mit einer vor Sorge ausdruckslosenStimme, »wir sollten zusehen, dass wir das entschlüsseln. Dann können wir den Tenor des ganzen Briefs besser einschätzen.«
»Na ja, ich kann vermutlich die Zahlensequenz knacken. So etwas ist meistens nicht so kompliziert.«
»Wie wär’s, wenn du dich daranmachst, während ich uns etwas zum Abendessen koche?«
Diana wandte sich wieder der Brühe zu und hantierte mit Küchenutensilien. Sie biss sich fest auf die Lippen und mahnte sich, den Mund zu halten.
Die Tochter nickte und ging zu einem kleinen Tisch in einer Ecke der Küche. Eine Weile sah sie ihrer Mutter bei der Arbeit zu und fühlte sich ein bisschen besser; jedes Zeichen von Normalität interpretierte sie sich als Zeichen von Stärke. Jedes Mal, wenn so etwas wie Routine eintrat, glaubte sie, die Krankheit sei zurückgedrängt und in ihrem unaufhaltsamen Fortschreiten gestoppt worden.
Sie atmete langsam aus, zog Bleistift und Papier aus einer Schublade und machte sich ans Rechnen. Zuoberst schrieb sie 524135217 auf das Blatt dann das ganze Alphabet darunter, wobei sie das A der eins zuwies, so dass am Ende Z und sechsundzwanzig zusammentrafen.
Natürlich wäre dies die einfachste Auslegung der Zahlenreihe, und sie bezweifelte, dass es funktionierte. Andererseits beschlich sie der Gedanke, dass der Absender ihr mit der Nachricht nicht allzu viel Mühe bereiten wollte. Abgesehen von der eigentlichen Mitteilung ging es ihm wohl mehr darum, ihr zu zeigen, wie schlau er war. Ein paar der Leser, die ihr schrieben, benutzten derart komplizierte Codes,
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