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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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gewesen, sie spürten, dass sie kurz vor dem Finale standen, und er allein wusste, wie schwierig es sein würde, an die Jagdbeute heranzukommen, die sich auf eigenem Terrain verschanzte.
    Es gab eine Kindergeschichte. Rudyard Kiplings Erzählung vom Mungo, der einer Kobra in ihr Loch folgt. Sie enthält eine Warnung: Fechte deine Kämpfe auf eigenem Gelände aus und nicht auf feindlichem Boden. Wenn du kannst. Das Problem ist, dachte er, dass man es oft nicht kann.
    Er hatte es in jener Nacht gewusst und nichts gesagt, obwohl bereits Hilfe unterwegs war. Er fragte sich, wieso, auch wenn er den wahren Grund kannte. In all seinen Studien über Mörder und ihre Morde hatte er noch keinen in jenem strahlenden Moment der uneingeschränkten Macht gesehen: das Opfer vollkommen unter Kontrolle und gänzlich darauf konzentriert, ihm den Tod zu bringen. Das hatte er aus unmittelbarer Nähe miterleben wollen, diesen königlichen Moment, in dem Verstand und Wahn des Mörders in einem einzigen Akt der Brutalität und Gewissenlosigkeit verschmolzen.
    Er hatte zu viele Bilder gesehen. Er hatte Hunderte Augenzeugenberichte auf Band aufgezeichnet. Er hatte Dutzende Tatorte gesehen. Doch all diese stückweisen Informationen waren immer einen Schritt von dem eigentlichen Akt entfernt. Er war nie da gewesen, wenn es tatsächlich passierte, hatte die Magie des Wahnsinns nie mit Händen greifen können. Und diese Triebkraft – Neugier konnte er es nicht nennen, denn er wusste, dass es viel tiefer ging, stärker war und in seinem Innern rumorte – hatte den Ausschlag dafür gegeben, dass er seinen Mund gehalten und nichts dagegen unternommen hatte, als die beiden Beamten der städtischen Polizei ihre Waffen zogen und kaum einen Meter vor ihm behutsam durch die Tür zum Lagerhaus geschlüpft waren. Ihre Vorsicht währte allerdings nicht lange, denn als sie den ersten schrillen Entsetzensschrei irgendwo aus den dunklen, düsteren Hallen hörten, waren sie schneller gelaufen und unvorsichtig geworden.
    Es war alles ein Fehler. Leichtsinn. Ein Fehlurteil.
    Wir hätten warten sollen, dachte er, egal, was dort drinnen mit jemandem geschah. Und wir hätten nie diesen Lärm machen dürfen, als wir in die Domäne dieses Mannes eindrangen, in seine Höhle, in der er zu Hause war, wo er jeden Winkel, jeden Schatten, jedes lose Brett im Boden kannte.
    Nie wieder, sagte er sich mit Nachdruck.
    Sein Atem beschleunigte sich. Die Konsequenz ihrer Fehleinschätzung war eine in grellen Farben flackernde Erinnerung, die ihm immer wieder durch den Schädel pulsierte: Einer der Polizisten tot, der andere blind, eine siebzehnjährige Prostituierte am Leben, aber nur noch so gerade eben und zwei fellos für immer gezeichnet. Er selbst mehrfach verwundet, wenn auch nicht verkrüppelt – zumindest nicht so, dass man es sah.
    Und der Mörder, der bei seiner Verhaftung spuckte und lachte, ohne dass er über das jähe Ende seines mörderischen Unternehmens sonderlich verärgert schien. Er wirkte eher, als wäre ihm die Störung ausgerechnet im Moment größter Befriedigung einfach etwas lästig. Er war ein kleiner Mann, ein Albino mit weißem Haar, roten Augen und einem verkniffenen Gesicht, das an ein Frettchen erinnerte. Er war jung, fast im selben Alter wie Clayton, mit drahtiger Muskulatur und dem riesigen rotgrünen Tattoo eines fliegenden Adlers auf der teigig weißen Brust.
    Und all das Töten in jener Nacht hatte ihm große Freude bereitet.
    Jeffrey verbannte die Vision des Killers aus seinem Gedächtnis, weigerte sich, den Singsang in dessen Tonfall heraufzubeschwören, als er inmitten all der pulsierenden Lichter der Streifenwagen weggeführt wurde.
    »Ich werde dich nicht vergessen«, hatte er gerufen, als Jeffrey in einen Krankenwagen geschoben wurde.
    Er ist weg, dachte Clayton. In Texas im Todestrakt.
    Geh da nie wieder hin. Geh nie wieder in so ein Lagerhaus. Niemals.
    Er schielte kurz zu Agent Martin hinüber. Weiß er, dass ich mich deshalb für Anonymität entschieden habe?, fragte er sich. Wieso ich das, worum er mich gebeten hat, nicht mehr mache?
    »Da wären wir«, erklärte Martin plötzlich. »Trautes Heim. Oder zumindest mein Arbeitsplatz.«
    Was Jeffrey sah, war ein großes Gebäude, unverkennbar eine Behörde. Etwas funktioneller, etwas weniger durchgestaltet als die anderen Büros, an denen sie vorbeigekommen waren. Etwas weniger elegant in seiner Erscheinung, das heißt, nicht schäbiger, sondern nur wuchtiger, so wie ein großer

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