Das Rätsel
Bündel aufgestauter Energie. Der siebenjährige Jeffrey stand neben ihr, doch an sie gelehnt, mit ernstem, besorgtemGesicht, als wüsste er bereits, dass er seinem Alter weit voraus war. Seine Hand klammerte sich an ihre.
Hinter ihnen, hinter der Lehne ihres Stuhls, ein Stückchen zurückversetzt, befand sich der ältere Jeffrey. Das Bild war mit Selbstauslöser gemacht, die Kamera war vor ihnen aufgestellt gewesen, und dadurch, dass er ein paar Schritt weiter hinten stand, war sein Gesicht verschwommen.
Er wollte sich nie fotografieren lassen. Einen Moment lang starrte sie auf sein Gesicht. Mistkerl, dachte sie.
Jeffrey würde es wissen, wurde ihr klar. Er würde wissen, wie man das Foto einscannen und die Züge mit Hilfe von Computerprogrammen schärfer bekommen konnte. Anschließend konnten sie ihn elektronisch altern lassen, um zu wissen, wie er jetzt aussah.
Sie hielt mitten im Satz inne. »Aber du bist tot«, sagte sie laut. Das Gesicht auf dem Foto blieb stumm.
Sie hatte getan, was sie konnte, dachte Diana. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um sich über ihn auf dem Laufenden zu halten, hatte gewissenhaft das Mitteilungsblatt der
Academy
gelesen und heimlich das
Princeton Packet
abonniert, die Wochenzeitschrift, die auch Hopewell abdeckte. Sie hatte daran gedacht, einen Privatdetektiv zu engagieren, doch wie immer verstand sie einen entscheidenden Punkt: Sämtliche Informationen können in zwei Richtungen laufen. Jede Anstrengung, die sie unternahm, um etwas über ihn herauszufinden, wie vorsichtig auch immer, konnte sich als Bumerang erweisen. Und so hatte sie sich über die Jahre auf die wenigen Kanäle konzentriert, die ihr relativ sicher schienen. Diese beschränkten sich im Wesentlichen auf öffentliche Quellen wie Zeitungen und Nachrichtenblätter. Sie sondierte die Alumni-Magazine jeder Schule und Universität, an denen er gelernt oder unterrichtet hatte. Sie las Nachrufe und Zeitungsartikelund achtete sorgsam auf Immobilientransaktionen. Doch größ tenteils waren ihre Bemühungen, besonders seit dem Anwaltsbrief, fruchtlos geblieben. Dennoch hatte sie weitergemacht. Darauf war sie ausgesprochen stolz gewesen. Die meisten Menschen hätten sich einfach irgendwann eingeredet, sie seien sicher, aber sie nicht.
Sie sah auf und sprach mit ihrem Mann, als stünde er vor ihr im Zimmer, sei es als Geist oder als Mensch aus Fleisch und Blut.
»Du hast geglaubt, du könntest mich zum Narren halten. Die ganze Zeit hast du gedacht, ich würde tun, was du von mir verlangst, von mir erwartest. Hab ich aber nicht, stimmt’s?« Sie lächelte.
Das muss dich entsetzlich wurmen, dachte sie.
Falls du am Leben bist, muss es dir ein ständiger Dorn im Auge sein.
Und falls du tatsächlich tot bist, dann hoffe ich, dass es dich in irgendeiner Hölle, in der du schmorst, rasend macht.
Diana Clayton holte noch einmal tief Luft.
Sie stand auf und nahm ihre Sachen vom Bett, um sie wieder wegzuschließen. Sie dachte an das, was ihrer Tochter passiert war, und an die Botschaften, die sie bekommen hatte.
Es ist alles ein Spiel, dachte sie bitter. Es war immer ein Spiel. In diesem Moment beschloss sie, ihren Sohn anzurufen, egal wie wütend es ihre Tochter machte. Falls diese Botschaften von ihm stammen, falls er uns nach all den Jahren doch gefunden hat, dann hat Jeffrey das Recht, es zu erfahren, da er genauso in Gefahr ist wie wir. Und er hat außerdem das Recht, bei diesem Spiel mit von der Partie zu sein.
Sie ging zu einem kleinen Nachttisch hinüber und nahm das Telefon an sich. Sie zögerte einen Moment, dann wählte sie die Nummer ihres Sohnes in Massachusetts.
Es klingelte nervtötend lange. Sie zählte zehn Klingelzeichen, dann noch einmal zehn. Dann legte sie auf.
Sie sackte schwer aufs Bett.
Diana wusste, dass sie in dieser Nacht nicht schlafen würde. Sie griff nach ihren Schmerztabletten und schluckte mühsam zwei ohne Wasser. Dabei ahnte sie, dass sie gegen den wirklichen Schmerz tief in ihrem Inneren, diese plötzliche, schreck liche, dunkel diffuse Angst nichts ausrichten konnten.
11. KAPITEL
Ein Ort der Widersprüche
Jeffrey Clayton rutschte unsicher auf der harten Kirchenbank hin und her, während die Gemeinde ringsum zum stillen Gebet die Köpfe senkte. Er war seit vielen Jahren nicht mehr zum Gottesdienst in einer Kirche gewesen, und die Inbrunst, die ihn umgab, bereitete ihm Unbehagen. Er saß in der letzten Reihe der Unitarierkirche der Stadt, in der die junge Frau, die er nur heimlich als
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