Das Rätsel
Stottern geraten war. Einen Moment lang wünschte sie sich, sie könnte mit der Hand in ihre Eingeweide greifen und das Organ, das ihr Ärger machte, herausreißen und auf den Boden werfen, so dass es sie nicht mehr umbringen konnte. Sie empfand eine unbändige, nagende Wut, dass ein tief in ihrem Bauch verborgenes Würstchen von einem Organ ihr das Leben nehmen konnte. Ich muss die Sache selbst anpacken, dachte sie. Ich bin Herr im eigenen Haus.
Sie erinnerte sich an den Moment, als sie ihre eigene Zukunft in die Hand genommen hatte, und dachte: Dasselbe mache ich mit meinem Tod.
Sie stand auf und lief durch ihr kleines Zimmer.
Der Regen auf den Keys ist heftig, dachte sie, wolkenbruchartig wie an diesem Abend, wenn es den Anschein hat, als zürnte der Himmel und ließe eine Sintflut niederprasseln, dass die ganze Erde bebt und sich verfinstert. Damals in der Nacht, in der sie vor ihrem Mann floh, war es anders; das war ein kalter, unwirtlicher Regen, der rings um sie spuckte und zischte, ein beunruhigender Regen, der all die Ängste aufpeitschte, die in ihr rumorten. Er war nicht so radikal und übermächtig wie die Unwetter auf den Keys, die ihr inzwischen so vertraut geworden waren; in jener Nacht, in der sie vor ihrem Zuhause, ihrer Vergangenheit und jeder Beziehung geflohen war, die ihre ersten dreißig Lebensjahre ausgemacht hatte, da war es ein Regen des Zweifels gewesen.
In einer Ecke ihres Schlafzimmerschranks verbarg sie eineverschließbare Kassette, nach der sie nun hinter ein paar Leinwänden, alten Farbtuben und Pinseln suchte.
Einen Moment lang machte sie sich Vorwürfe: Es gibt keinen guten Grund, mit dem Malen aufzuhören, sagte sie. Selbst wenn du stirbst.
Sie war sich nicht bewusst, dass sie etwas Ähnliches tat wie ihre Tochter. Doch während Susan ein Messer aus ihrem Schrank genommen hatte, kramte Diana einen kleinen Kasten mit gut versteckten Erinnerungen hervor.
Die Kassette bestand aus billigem, schwarzem Metall. Früher einmal hatte sie dazu ein kleines Vorhängeschloss besessen, doch Diana hatte den Schlüssel verlegt und war gezwungen gewesen, das Schloss mit einer Feile aufzubrechen. Jetzt hatte es nur noch einen einfachen Verschluss. Wahrscheinlich galt das für die meisten Erinnerungen; egal, wie tief man sie vergraben mochte, sie werden durch die dürftigsten Vorrichtungen gesichert.
Sie stand neben ihrem Bett, öffnete langsam den Behälter und breitete den Inhalt vor sich auf der Tagesdecke aus. Seit Jahren hatte sie nichts mehr hineingelegt oder herausgenommen. Zuoberst befanden sich ein paar Dokumente, darunter eine Kopie ihres Testaments, wonach alles, was sie besaß, wahrlich nicht viel, zu gleichen Teilen an ihre beiden Kinder gehen sollte; eine Versicherungspolice über einen bescheidenen Betrag sowie eine Abschrift der Eigentumsurkunde zu ihrem Haus. Unter diesen Papieren lagen mehrere lose Fotos, eine kurze getippte Liste mit Namen und Adressen, ein Brief von einem Anwalt und eine Hochglanzseite, die aus einer Zeitschrift gerissen war.
Diana nahm zuerst dieses Blatt und ließ sich schwer auf den Bettrand sinken. Am unteren Seitenrand befand sich eine Zahl: zweiundfünfzig. Daneben stand in unglaublich kleinemDruck:
Vierteljahresschrift der St. Thomas More Academy. Frühjahr 1983
.
Die Seite enthielt drei Spalten Text. Die ersten beiden trugen die Überschriften
Vermählungen
und
Geburten.
Die dritte war
Nachrufe
betitelt. In dieser Rubrik gab es nur einen einzigen Eintrag, der ihren Blick magisch anzog:
Mit Betroffenheit hat die Academy vom kürzlichen Ableben des ehemaligen Geschichtsdozenten Jeffrey Mitchell erfahren. Professor Mitchell, ein Violinist von beachtlichem Format, wird vielen Studenten und Kollegen wegen seines Elans, seiner Sorgfalt und seines Witzes in Erinnerung bleiben, hervorragende Eigenschaften, die er in seinen wenigen Jahren an der Academy an den Tag gelegt hat. Für alle, die das Studium der Geschichte und die klassische Musik lieben, bedeutet sein Tod einen schmerzlichen Verlust.
Diana hätte am liebsten gespuckt. Sie hatte einen gallebitteren Geschmack im Mund.
»Bestimmt werden ihn all die Menschen vermissen, die er nicht töten konnte …«, flüsterte sie wütend.
Sie hielt die Seite hoch und rief sich ihre Gefühle damals bei ihrer Entdeckung dieses Eintrags ins Gedächtnis. Staunen. Erleichterung. Danach hatte sie einen unbändigen Freiheitsrausch erwartet, ein absolutes Hochgefühl darüber, nun endlich für immer sicher zu sein,
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