Das Rätsel
nannten es die Einheimischen. Sie unternahm alles, was ihnen im Lauf ihrer Kindheit das Gefühl vermitteln konnte, ihr Leben hätte auf den Keys begonnen.
Sie griff in die Box und holte eine getippte Namensliste und ein kleines Päckchen Fotos heraus. Ihr zitterten die Hände, als sie die Bilder auf dem Schoß hielt. Seit Jahren hatte sie keinen Blick mehr darauf geworfen. Eins nach dem anderen hielt sie sie hoch.
Die ersten waren Bilder von ihren Eltern sowie ihrem eigenen Bruder und ihrer Schwester, als sie selbst jung waren. Sie waren an einem Strand in New England gemacht worden, und mit den altmodischen Badeanzügen, Liegestühlen, Schirmen und Kühlboxen wirkten sie alle ein wenig lächerlich. Es war ein Bild von ihrem Vater dabei, auf dem er eine lange Brandungsangel in der Hand hielt und seine Wasserstiefel trug, die Kappe mit dem schwertfischförmigen Schirm aus der Stirn geschoben; mit breitem Grinsen zeigte er auf den großen Steinbarsch, den er an den Kiemen hielt. Er ist jetzt tot, dachtesie. Muss er sein. Zu viele Jahre sind seither vergangen. Ich wünschte, ich wüsste es sicher, es kann aber nicht anders sein. Er wäre stolz, wenn er erführe, dass seine Enkeltochter eine genauso hervorragende Anglerin ist wie er. Er hätte es so genossen, nur ein einziges Mal mit ihr zusammen im Skiff hinauszufahren.
Sie legte dieses Bild weg und nahm ein anderes in die Hand, von ihrer Mutter, zusammen mit Dianas Schwester und Bruder. Sie hielten alle die Arme verschränkt, und man konnte deutlich sehen, dass sie genau in dem Moment abgedrückt hatte, als die Pointe eines Witzes fiel, da sie alle schallend lachten und die Köpfe zurückwarfen. Das hatte sie so an ihrer Mutter gemocht – sie hatte immer über alles lachen können, egal wie hart die Zeiten waren. Eine Frau, die schlechten Nachrichten trotzte, musste Diana denken. Ich hab meine Sturheit wohl von ihr. Sie ist zweifellos auch längst tot. Oder aber viel zu alt und vergesslich. Sie betrachtete das Bild zum zweiten Mal und merkte, wie in ihr die Einsamkeit hochkroch. Wenn sie sich nur an den Witz erinnern könnte, über den sie auf dem Foto lachten. Sonst nichts, einfach nur dieser Witz, das wäre schön.
Sie seufzte tief. Sie betrachtete ihren Bruder und ihre Schwester und flüsterte: »Es tut mir leid.« Einen Moment lang fragte sie sich, ob für sie alle das Leben schwerer geworden war, als sie verschwand. Geburtstage, Familienfeiern, Weihnachtsfeste. Wahrscheinlich auch Hochzeiten, Geburten, Tode, all die gewöhnlichen Ereignisse im Leben einer Familie mit einem einzigen tödlichen Schwertstreich ihres Willens abgeschnitten. Sie hatte ihnen kein Wort der Erklärung zukommen lassen, nicht eine Silbe der Kommunikation. Wenn sie eines in der Nacht, in der sie vor Jeffrey Mitchell floh, mit Sicherheit wusste, dann dies: Ein neues Leben für sich und ihre Kinderkonnte sie sich nur an einem sicheren Ort erhoffen. Und die einzige Möglichkeit, sich diese Sicherheit zu erobern, bestand darin, nie aufzutauchen, denn dann würde er sie finden. So viel wusste sie mit absoluter Gewissheit.
In der Nacht bin ich gestorben. Und wieder auferstanden.
Sie legte die Fotos beiseite und sah sich die getippte Liste an. Sie enthielt die Namen und die letzten Adressen, die sie von ihren sämtlichen Verwandten wusste. Sie war, so hoffte sie, für ihre Kinder eines Tages von Nutzen. Irgendwann einmal würde es möglich sein, wieder mit der Familie in Verbindung zu treten.
Als sie den Brief des Anwalts bekommen hatte, hatte sie geglaubt, es sei vielleicht schon so weit. Ein Beweis für seinen Tod. Seit Jahrzehnten lag das Schreiben in der Kassette. Dabei hatte sie nur darauf gewartet. Plötzlich fragte sie sich: Wieso war sie nicht aus der Deckung gekommen, als der Brief eintraf?
Sie schüttelte den Kopf.
Weil ein beträchtlicher Teil von ihr es nicht glauben konnte. Genug, um nicht ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen, egal, wie verlockend der Brief auch klang.
Auf dem Boden der Kiste lag ein kleiner brauner Umschlag, der letzte Gegenstand. Sie nahm ihn so behutsam heraus, als sei er zerbrechlich. Sie machte ihn langsam auf, zum ersten Mal seit vielen Jahren.
Auch darin steckte ein Foto.
Auf diesem Bild war sie sehr jung und saß auf einem Sessel. Beim Anblick ihres Gesichts runzelte sie die Stirn. Mausgrau. Sie versteckte sich hinter einer Brille. Ängstlich und unentschlossen. Schwach. Eine fünfjährige Susan hing an ihrem Schoß, ein
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