Das Reich der Elben 01
kostete uns bereits höhere Verluste als alle Kriege in der Vergangenheit. Verluste, die durch die wenigen Geburten nicht ausgeglichen werden können. Und es ist keineswegs so, dass
die Jüngeren weniger vom Lebensüberdruss gezeichnet wären als diejenigen, die den größten Teil ihres Lebens noch in Athranor verbrachten und vielleicht einfach nicht loslassen können – ob nun von der Alten Heimat oder dem Traum von Bathranor – und die deshalb zu einer gewissen Melancholie neigen.« Keandir schüttelte den Kopf. »Es mag manchen unter den Älteren schwerfallen, aber wir müssen unsere Suche nach Bathranor aufgeben, wenn wir nicht untergehen wollen. Es ist schon ein Wunder, dass wir aus dem Nebelmeer überhaupt wieder herausgefunden haben, genauso wie es für die Meisterschaft unserer Schiffsbauer und die außerordentlichen handwerklichen Talente unserer Seeleute spricht, dass nicht bereits eine größere Zahl unserer Schiffe im Laufe der Zeit schlicht und ergreifend verrottet ist. Die Planken unserer Schiffe sind modrig und faulen. Es fällt einem erst richtig auf, wenn man die frische Luft dieses neuen Landes atmet. Es heißt, dass wir langlebig sind. Aber die Grenze zwischen langlebig und untot ist fließend, und vielleicht waren diejenigen, die dem Lebensüberdruss bereits zum Opfer fielen, einfach nur feinfühliger und erkannten, dass sie innerlich längst ebenso leblos und kalt waren wie wandelnde Leichen – oder wie die Namenlosen Götter, auf deren Rat Fürst Bolandor so viel Wert legt.«
Ein Raunen ging durch die Schar der Zuschauer. Aber auch die Mitglieder des Kronrats spürten die Entschlossenheit, mit der König Keandir argumentierte. Da war ein Elbenkönig, der sich durch nichts von dem Weg abbringen lassen wollte, den er für sich gewählt hatte. Ein Krieger, der das Schicksal bezwungen hatte und für den es daher keine Autorität und keine Bestimmung mehr gab. Er fuhr fort: »Vielleicht wollten jene, die dem Lebensüberdruss zum Opfer fielen, mit ihrem Sprung in die ewigen dunklen Fluten nur noch ihre Körper
töten, nachdem sie wussten, dass ihre Seelen längst gestorben waren.«
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Spottet nicht über das Leiden so vieler Elben!«, erhob Herzog Palandras seine Stimme. Er vertrat das Haus Torandiris – eine der einflussreichsten Elbenfamilien, die ihren Ursprung bis auf Torandiris zurückführte, einen Helden und Entdecker, der zur Zeit des allerersten Elbenkönigs gelebt haben sollte. Dieser Ahnherr des Herzogs war der Held vieler Legenden und hatte angeblich allein ganze Armeen von Trollen besiegt. In Athranor war ein halbes Dutzend Städte nach ihm benannt gewesen, und für ein weiteres Dutzend Orte stellte die Behauptung, dass Torandiris einst dort gelebt habe, einen festen Bestandteil der überlieferten Geschichte dar. Auch Königin Ruwen stammte aus dieser edlen Familie.
»Wie könnte ich spotten über die Leiden derer, die der
Lebensüberdruss in seinen Klauen hält?«, antwortete Keandir.
»Sie leiden nicht mehr, werter Herzog! Genau das ist ja ihre Tragik. Sie verlieren nach und nach ihre Fähigkeit, zu leiden, zu lieben, Glück zu empfinden oder Trauer. Sie empfinden nichts mehr außer dem entsetzlichen Gefühl sinnloser Leere. Nein, sie leiden nicht, und daher kann ich ihr Leiden mit meinen Worten auch nicht verspotten.«
»Was wisst Ihr schon, mein seegeborener König?«, rief der Herzog, von dem erzählt wurde, dass er nur wenige Jahrzehnte jünger als Lirandil der Fährtensucher war und mit diesem einst in Athranor unbekannte Gebiete erforscht hatte. »Wie könnt Ihr so empfindungslos und grausam daherreden? Wie kann ein Elb solche Reden führen über Elben, die von einer grausamen Krankheit befallen sind, gegen die noch keiner unserer Heiler ein wirksames Mittel gefunden hat?«
König Keandir schüttelte den Kopf. »Aber begreift Ihr denn nicht, Herzog Palandras? Diejenigen, die wirklich leiden, sind
die, die den Erkrankten nahestehen, diejenigen, die ihre Verwandten, Geliebten oder Freunde sind – oder waren. Sie leiden so lange, bis auch ihr Leid zum Lebensüberdruss wird, der uns letztendlich alle dahinrafft, wenn wir dem nicht ein Ende setzen.«
»Ein Ende setzen?«, echote der Herzog. »Was genau heißt das für Euch, mein König?«
Eine Pause entstand.
Keandir zögerte. »Nicht alle Traditionen unseres Volkes sind erhaltenswert«, erklärte er dann mit leiser, sonorer Stimme.
Herzog Palandras richtete den Blick auf
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