Das Reich der Elben 01
eher eine Verführung dar? Ist es nicht einfach nur der leichtere Weg, hierzubleiben und hier ein neues Elbenreich zu gründen? Und ist der leichteste Weg nicht häufig genug auch der schlechtere?« Der Fürst machte eine rhetorische Pause. Er hatte in seinem langen Leben Zeit genug gehabt, die Kunst der Rede zu erlernen, und er beherrschte sie mit einer Vollkommenheit, wie sie nur wenigen Elben zu eigen war.
Auch er erhob sich, schritt durch die Lücke zwischen zwei der vielen Tische und ging an Keandir vorbei auf den Altar zu. Er deutete auf die Elbensteine, die allerdings darauf nicht mit einem stärkeren Leuchten reagierten, wie es bei Brass Elimbor der Fall gewesen war. »Was, so frage ich die anwesenden Mitglieder des Thronrats, würden die Eldran und die Namenlosen Götter zu den Plänen unseres Königs sagen?«
»Was Letztere dazu sagen würden, lässt sich schnell zusammenfassen«, erwiderte Keandir. »Sie würden gar nichts
sagen. Sie waren ja bereits in den alten Zeiten, über die die Athranor-Geborenen so gerne sprechen, nicht besonders mitteilsam.«
Ein Anflug von Heiterkeit war hier und dort zu bemerken. Aber der eisige Blick, den Fürst Bolandor daraufhin in die Runde schickte, brachte jedes verhaltene Lächeln und jede klammheimliche Freude aufgrund der ironischen Bemerkung des Königs augenblicklich zum Ersterben.
Einen quälend langen Moment herrschte Schweigen. Keandir warf einen kurzen Seitenblick zu Brass Elimbor. Aber dessen Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Wie eine in Stein gemeißelte Statue saß er da. Doch seine Augen wirkten wach und klar, sodass man davon ausgehen konnte, dass er die vorgetragenen Argumente genauestens verfolgte, allerdings ohne bisher auch nur durch ein Zucken in seiner Miene erkennen zu lassen, auf welcher Seite er in diesem Streit stand. Alles, was er getan hatte, war, die Elbensteine in den Mittelpunkt zu bringen und damit eine alte Tradition wieder aufzunehmen. Aber in der eigentlichen Frage, die debattiert wurde, hatte er sich noch nicht geäußert.
Fürst Bolandor war die Enttäuschung darüber, dass er bisher keine Unterstützung durch den Schamanen erhalten hatte, im Gesicht abzulesen. Offenbar war der Fürst davon ausgegangen, dass jemand, der so sehr die Vergangenheit des Elbenvolks repräsentierte wie Brass Elimbor, unmöglich die Idee einer Reichsgründung auf diesem Kontinent unterstützen konnte.
Bolandor fuhr mit großer theatralischer Geste fort: »Es bleibt dabei, dass die Errichtung eines neuen Elbenreichs hier im Zwischenland nichts anderes als die Kapitulation vor dem großen Ziel darstellt, das einst alle Elben vereinte.«
Keandir hatte damit gerechnet, dass der Fürst solche oder ähnliche Einwände vorbringen würde. Seine Gemahlin hatte ihm von dem kurzen Disput berichtet, der auf der »Tharnawn«
stattgefunden hatte, als die Kundschafterschiffe zurückgekehrt waren und er auf Naranduin verschollen gewesen war. Außerdem führte Bolandor die Traditionalisten im Kronrat an, diejenigen, die an Bathranor als endgültiges Ziel ihrer Reise festhielten und für die das Zwischenland nichts weiter war als ein schwacher Abklatsch dessen, von dem sie glaubten, das es sie an den Gestaden der Erfüllten Hoffnung erwartete.
»Ob der Weg, den ich beschreiten will, wirklich ein leichter ist, wage ich zu bezweifeln«, widersprach Keandir. »Aber ich weiß, dass die Fortsetzung unserer endlosen Suche nach Bathranor nur unseren Untergang bedeuten kann. Zudem gebe ich zu bedenken…«
Fürst Bolandor war dermaßen außer sich, dass er sich nicht scheute, selbst dem König ins Wort zu fallen. »Ihr behauptet allen Ernstes, dass dieser großartige Traum von den Gestaden der Erfüllten Hoffnung den Untergang bedeutet? Wisst Ihr eigentlich, wie sehr Ihr damit alles mit Füßen tretet, woran Eure Vorväter geglaubt haben, König Keandir? Euer Vater Eandorn opferte dem Erreichen dieses Ziels sein Leben, aber Ihr missachtet sein Andenken, werft es weg, als wäre es etwas Wertloses, dessen man sich lieber heute als morgen entledigt. Es ist nicht zu fassen!«
Ich muss ihm zeigen, wer von uns beiden der König ist!, durchfuhr es Keandir. Aber er durfte andererseits nicht vergessen, dass der Fürst keineswegs der Einzige war, der so dachte.
Der Tonfall des Königs blieb ruhig, während er entgegnete:
»Wir haben in der zeitlosen Sargasso-See jeden festen Bezug verloren, und es ist kein Wunder, dass Gleichgültigkeit und Agonie unter uns um sich griffen. Der Lebensüberdruss
Weitere Kostenlose Bücher