Das Reich der Katzen (German Edition)
warum
Fleur nicht weiterlief. Als ihr das Plätschern zu Bewusstsein kam und sie den
breiten Fluss sah, wusste sie, warum. Katzen hassten Wasser. Onisha hatte zwar
gehört, dass es orientalische Vertreter ihrer Gattung gab, die für ihr Leben
gerne schwammen. Vorstellen konnte sie sich das allerdings nicht. Sie öffnete
das Maul. Wollte Fleur gerade etwas zurufen, als ein Schatten über sie fiel.
Sie fuhren gleichzeitig, wie siamesische Zwillinge, herum. Vor
ihnen stand eine wunderschöne Frau mit einem Katzenkopf. Was Onisha aber am
meisten erschreckte, war die Tatsache, dass es Fleurs Gesicht war.
AUFBRUCH
Onisha wurde von ihrem eigenen Schrei wach. Der Traum war so
realistisch gewesen, dass sie sich fragte, ob sie womöglich tatsächlich alles
erlebt hatte. Das hast du auch, rief sie sich energisch zur Ordnung. Bastet war
ihnen ja tatsächlich schon einmal erschienen. Es gab nur einen klitzekleinen
Unterschied: Sie hatte in Wirklichkeit nicht Fleurs Gesicht gehabt. In Wirklichkeit?
Onisha schalt sich eine Närrin. Die Erscheinung im Wald war mit Sicherheit
ebenso ein Traum gewesen wie dieser.
»Was ist los?«, fragte Fleur besorgt.
»Nichts«, log Onisha. »Ich habe nur geträumt.«
»Nur ist wohl stark untertrieben. Du hast geschrien wie ein
abgestochenes Rind.« Als Onisha das Gesicht verzog, kicherte Fleur. Der alte
Schalk schien wieder die Oberhand gewonnen zu haben. »Auch wenn dir meine
Ausdrucksweise wieder einmal nicht gefällt, kannst du mich doch nicht hinters
Licht führen. Du hattest einen Alptraum!« Fleur hatte die Angewohnheit niemals
locker zu lassen. Onisha kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass
sie nicht eher Ruhe geben würde, bis sie ihr den Traum erzählt hatte. Und so
tat sie es auch. Erst stockend und widerwillig, dann immer fließender.
Als sie endete, wartete sie auf eine von Fleurs schnoddrigen
Bemerkungen. Die blieb jedoch aus. Man sah der Falbkatze deutlich an, dass sie
erschrocken war. »Die Katzengöttin hatte tatsächlich mein Gesicht?«
»Ja!« Onisha fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut. Der
Traum hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte, und sie hatte
ihn aus zwei Gründen erzählt: Erstens wollte sie vermeiden, dass Fleur sie noch
länger nervte, und zweitens hatte sie sich von der Falbkatze so etwas wie einen
lockeren Zuspruch erhofft. So in der Art: Träume sind Schäume. Aber das blieb
aus. Im Gegenteil. Fleurs Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass sie der Traum
noch mehr erschreckte als Onisha. Und dieser fiel auf, dass Fleur bisher kaum
etwas über sich erzählt hatte. Was verschweigt sie mir?, fragte sie sich
bestürzt. Rief sich aber dann zur Ordnung. Sie wusste nicht, ob Fleur ihr
tatsächlich etwas verschwieg, aber sie nahm sich vor, wenn es ein Geheimnis
gab, es zu ergründen.
Langsam drehte sie sich herum und fragte beiläufig: »Gehen wir?«
Fleur nickte, immer noch tief in Gedanken versunken.
Sie gingen los. Fleur, wie immer voran, Onisha hinterher. Sie
verließen den Wald und durchstreiften abgeerntete Felder. Je weiter sie kamen,
desto schwüler wurde die Luft. Fleur schwieg immer noch. Onisha wusste, dass
sie an das Traumbild der Bastet dachte, und ließ sie in Ruhe.
Knisterndes Schweigen lag zwischen ihnen. Über ihnen braute sich
Gewitterluft bedrohlich zusammen. Energieschübe schwangen über sie hinweg, die
ihre Nerven wie Drahtseile spannten. Fleurs Gesicht war ernst. Und auch Onisha
fühlte, wie die Unruhe in ihr mit jedem Schritt stieg. Sie wusste plötzlich mit
untrüglicher Sicherheit, dass der Traum der Schlüssel ihrer Zukunft war. Sie
konnte sich jedoch nicht vorstellen, in welches Schloss er passte, welche Tür
er öffnen würde und vor allem, was sich dahinter verbarg.
Onisha schrak zusammen, als der erste zackige Blitz die
dunkelgraue Wolkendecke erhellte. Kurz gefolgt von grollendem Donner. Nur
wenige Sekunden später zuckten die nächsten Blitze auf.
Fleur blickte missmutig zum Himmel. »Es gibt Regen. Er liegt
schon in der Luft! Wir müssen uns irgendwo verkriechen.« Sie sah sich prüfend
um. »Konnte das blöde Gewitter nicht warten, bis wir die Berge erreichen?«
Berge?, fragte sich Onisha insgeheim, Fleur hat bisher nichts von
Bergen erwähnt. Aber richtig: am Horizont ragte eine Bergkette wie eine Reihe
schwarzer spitzer Hexenhüte in den Himmel. »Vielleicht schaffen wir es noch«,
sagte Onisha, nur um überhaupt etwas zu erwidern.
»Willst du etwa dahin fliegen?« Fleurs
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