Das Reich der Schatten
unabsichtlich – doch letztendlich hatte sie mit ihren Einschätzungen meist recht behalten. Er hatte sich oft falsch verhalten, hatte sich beeinflussen lassen. Viele kleine Dinge fielen ihm unvermittelt ein. Er schob sein Hemd hoch, betrachtete die Narbe an seinem Arm. Als Lena bei ihm gewesen war, hatten die Schmerzen ganz unverhofft nachgelassen. Er hatte das auf Eryns Trank geschoben, und schon damals, als er jenseits der Schwelle mit dem Gift der Eiben in Kontakt gekommen war – hatte sie ihn damals nicht vor Schlimmerem bewahrt? Es war seltsam, auch wenn Ragnar Aravyn keinesfalls missen wollte, so hatte er dennoch das Gefühl, Lena müsse irgendwie zu ihm gehören. Dass sie fehlte, fühlte sich falsch an.
Ganz unvermittelt zügelte Ragnar sein Pferd, und auch die anderen hielten verwundert an.
»Was hast du?«, wollte Aravyn wissen.
»Bist du sicher, dass wir Anam Cara sind?«, stieß er hervor.
Feine Fältchen bildeten sich auf Aravyns Stirn, während sie Ragnar betrachtete. »Es ist sonderbar«, sagte sie nachdenklich. »Ich bin mir sicher, dass wir zusammengehören, dennoch …«
»Was?«, drängte Ragnar.
»Dennoch habe ich das Gefühl, etwas fehlt«, vollendete sie ihren Satz.
»Aravyn, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, begann er, denn überraschenderweise empfand er genauso wie sie.
»Wie Arihan schon sagte: Wir alle müssen uns auf dem Weg zum Cerelon unseren Zweifeln stellen«, entgegnete sie sanft, und der Tuavinn-Krieger nickte zustimmend.
»Ich …« Ragnar atmete tief durch. »Ich muss Lena noch einmal sehen. Der Gedanke, dass sie Elvancor verlässt …«, eine weitere Fontäne schoss aus dem Vulkankrater, »… ich kann das nicht ertragen.«
»Auch mich macht es sehr traurig, dass sie und Kian gehen«, stimmte Aravyn betrübt zu.
»Es ist immer schier unerträglich, seinen Seelenfreund nicht um sich zu wissen«, erklärte Arihan ruhig und musterte Ragnar aus zusammengekniffenen Augen. »Geh in dich, versuch zu ergründen, was deine Seele bereits weiß!«
»Wie soll ich es denn herausfinden?«, fragte Ragnar verzweifelt.
»Aravyn, bestehen diese Zweifel auch in dir? Vielleicht sogar schon seit Längerem?«, erkundigte sich Arihan.
Die junge Kriegerin zögerte, nickte aber schließlich.
»Weshalb hast du nichts davon gesagt? Ich dachte, zumindest du wärst dir sicher«, fuhr er sie nun an. »Hast du schon früher infrage gestellt, ob du wirklich Ragnars Anam Cara bist?«
»Ich … liebe ihn«, stammelte Aravyn. »Aber … ich weiß nicht, ob es richtig ist, mich schon jetzt zu binden. Ich fühle mich dir verbunden, Ragnar«, flüsterte sie. »Nur weiß ich nicht, ob dies die Verbundenheit zweier Anam Cara ist.«
»Beim Licht der Ewigkeit«, stieß Arihan hervor. »Du darfst Lena nicht gehen lassen!«
Ragnars Blick wanderte zwischen Aravyn und dem Tuavinn hin und her, er zögerte, jedoch nur für einen Moment. Dann riss er sein Pferd herum, jagte den Weg zurück, den er gekommen war. Etwas in seinem Inneren öffnete sich. Unbewusst unterdrückte Gefühle drängten an die Oberfläche, und obwohl noch vieles unklar war, eines wusste er – Lena durfte ihn nicht verlassen.
Den Weg den Berg hinauf und durch das Höhlenlabyrinth legten Lena, Kian, Eryn und Etron schweigend zurück. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Lena wunderte sich, dass so viele Verletzte nun vor der Höhle lagen, anstatt im Inneren. Timena kam ihnen mit ihrem Kind auf dem Arm entgegen. »Teile der Höhle sind durch die Beben eingestürzt«, berichtete sie. »Wir mussten die Verwundeten nach draußen bringen.«
»Ist der Zugang zum Kraftpunkt frei?«
Die Tuavinn-Frau schüttelte den Kopf. »Nein, der ist blockiert.«
»Also müssen wir zum Himmelsfluss reiten«, überlegte Etron.
»Würde es lange dauern, den Gang freizuräumen?«, fragte Lena. Sie wollte es hinter sich bringen, Elvancor zu verlassen, denn es schmerzte ohnehin schon ungemein.
Etrons Augenbrauen zogen sich zusammen, und er betrachtete den Höhleneingang, während er sprach. »Wir wissen nicht, wie weit die Gänge zerstört wurden, aber sicher sind auch tiefer im Berg Wände eingestürzt. Wir sollten die Pferde holen.«
»Gut«, sagte Lena nur, setzte sich auf einen Stein und beobachtete die Wolken.
Nach einer Weile kam Amelia den Weg herauf. Vermutlich hatte sie noch an Maredds Bestattungsfeuer ausgeharrt, und auch wenn sie sich gefasst gab, verspürte Lena doch Mitleid mit ihr.
»Teile der Höhle wurden zerstört«, erzählte
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