Das Reich der Schatten
nachgelassen hatte, der Vulkan spie noch immer Feuer, und Ragnar grübelte, ob Arihan damit ebenfalls richtiglag. War er, Ragnar, daran schuld? Und würde sich etwas ändern, wenn er sich mit Aravyn verbunden hatte? Die hübsche Tuavinn-Kriegerin lächelte ihm zögernd zu, wirkte grüblerisch und in sich gekehrt, wenn er sie ansah. Er fragte sich, worüber sie nachdachte, doch am Ende kehrten Ragnars Gedanken wieder zu Lena zurück. Sie war bei ihrem Abschied so traurig gewesen, und auch er wollte nicht, dass sie ging. Fast schon fühlte es sich falsch an. Aber musste er ihr nicht ihr Glück in der anderen Welt gönnen – vielleicht gemeinsam mit Kian?
Eine Eruption des Vulkans erhellte den Himmel, ein neu aufgezogener Wind jagte dicke Wolken über das Firmament. Lena – würde sie jemals wiederkommen?
Ragnar spähte in jene Richtung, in der die Höhlen lagen. War Lena am Ende schon auf dem Weg über die Schwelle? War es wirklich richtig gewesen, sie ziehen zu lassen? Eine innere Zerrissenheit breitete sich in Ragnar aus, und prompt erzitterte die Erde unter ihnen, Risse bildeten sich, in die der pulvrige Schnee hinabrieselte. Die Pferde tänzelten nervös und warfen die Köpfe hoch.
»Ragnar, ist alles in Ordnung?«, fragte Aravyn erschrocken. Rasch legte sie ihre Hand auf die seine, und das Beben ließ nach.
Er nickte zerstreut und versuchte, seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. War auch das wieder seine Schuld gewesen? Konnte es sein, dass seine Gefühle sich unkontrolliert in Elvancor widerspiegelten? Dieser Gedanke machte ihm Angst, entsetzliche Angst.
»Arihan, wie war es, als du zum Cerelon gegangen bist?« Er betrachtete neugierig den Krieger, der stolz auf seinem Pferd saß.
»Es war ein beglückendes Erlebnis«, erinnerte sich der Tuavinn. »Es ist schon lange her«, seine Augen wanderten hinauf in die Nebel, »viel zu lange. Aber ich weiß noch, dass ich mich auf den Moment freute, mich mit meiner Seelengefährtin zu vereinen.«
Weshalb fühlt sich das bei mir dann nicht so an? ,schoss es Ragnar durch den Kopf.
Doch da sprach Arihan auch schon weiter: »Der Weg zum Cerelon ist etwas Besonderes, Ragnar. Manche behaupten, erst wenn man sich endgültig entschließt, sich mit seinem Anam Cara zu verbinden, zeigt einem Elvancor, ob man auf dem richtigen Weg ist. Alle Zweifel, alle Hoffnungen und Wünsche drängen noch einmal an die Oberfläche, nur um von dem reinigenden Feuer im Inneren der beiden Anam Cara fortgewaschen zu werden. Jene Tuavinn, durch deren Adern Menschenblut strömt, verspüren diese Zweifel stets stärker als alle anderen.«
»Gut, dass du das erwähnst«, hörte er Aravyn murmeln, erhaschte einen unsicheren Seitenblick von ihr und runzelte die Stirn.
»Hast du Zweifel, Aravyn?«, stieß er heftig hervor.
»Nein«, versicherte sie, dennoch hob sie plötzlich die Schultern. »Doch, die habe ich. Aber wie du gehört hast, ist das nicht ungewöhnlich.« Sie warf einen fragenden Blick auf Arihan, der nur eine Augenbraue in die Höhe zog.
»Hm.« Ragnar trieb sein Pferd an. Er dachte an die Zeit, als er Aravyn kennengelernt hatte. Von der ersten Sekunde an hatte sie ihn fasziniert. Sie war ein bezauberndes Wesen, zudem warmherzig und eine fantastische Kriegerin. Wenn er mit ihr geschlafen hatte, war das wie ein Rausch gewesen. Aber war da nicht immer ein Rest von Leere in ihm geblieben, etwas, das er gesucht und – wenn er ehrlich mit sich selbst war – bis heute nicht gefunden hatte? In letzter Zeit hatte er Aravyn nicht mehr so sehr vermisst wie früher, wenn sie einmal nicht bei ihm gewesen war. Sicher hatte er sich Sorgen um sie gemacht, aber hätte das nicht anders sein sollen? Erneut warf er ihr einen abwägenden Seitenblick zu. Aravyn war bei ihm gewesen, als Mitras sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Sie hatte ihn beruhigt und getröstet. Doch war es nicht letztendlich Lena gewesen, die ihn davor bewahrt hatte, sich dem Rodhakan anzuschließen? Außerdem hatte er sich Lena, nicht Aravyn, gleich zu Anfang anvertraut, ihr gestanden, sich von den Rodhakan auf seltsame Weise angezogen zu fühlen. Weshalb hatte er sich nicht Aravyn offenbart, wenn sie doch seine Seelengefährtin war? Wirklich nur, um sie vor Ärger mit ihrem Onkel zu bewahren? Er schüttelte sich, bemüht, diese seltsamen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Lena war eine gute Freundin, sie bedeutete ihm viel. Aber gleichzeitig brachte sie ihn häufig zur Weißglut, provozierte ihn, wenn auch
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