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Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Titel: Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Miller
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1
    Kurz vor der Dämmerung tauchten wir hinunter, eine Stunde östlich von Rio de Janeiro. Pascal schwamm voraus, manchmal drehte er sich um, als wollte er sagen, er allein habe diese Unterwasserpracht geschaffen und erwarte mein Lob dafür. Wir tauchten in den Meereskanal, Pascal machte Licht, wir folgten dem Strahl seiner Lampe. Ich hörte das Geräusch meines Atems, sah meinen Mann mit kräftigen Beinen schlagen, schließlich erreichten wir das Reich der Tiger , wie die Einheimischen die Höhle nennen. Die Tigermuräne, Jäger bei Nacht, zeigte im künstlichen Licht keine Scheu und fraß weiter. »Die Zähne der Tigermuräne sind aus Glas«, hatte Pascal erklärt – jetzt kam mir das Tier mit seinen langen, durchscheinenden Zähnen, den schwarzen Augen, den Schecken auf dem schlangenhaften Körper unheimlich vor. Pascal leuchtete die Muräne an. Sie schlang einen Knoten in den eigenen Leib und zog den Kopf eines noch lebenden Beutefisches in diese Schlinge, hielt ihn fest und riss mit dem Maul Fleischstücke heraus. Dann öffnete sie ihren Leibesknoten und ließ die Überreste zu Boden sinken.
    »Leben bedeutet fressen«, sagte Pascal später beim Abendessen. Versonnen fügte er hinzu: »Es gibt viele Arten zu fressen.«
    Am nächsten Morgen fuhr er allein zum Tauchen und nahm die Kamera mit. Als er mittags nicht zum Essen auftauchte, beunruhigte mich das nicht; in der Tiefe des Meeres fühlte Pascal sich wohl wie an ganz wenigen Orten. Später versuchte ich es auf dem Handy. Erst am späten Nachmittag verständigte ich jemanden vom Hotel. Die Suche dauerte die ganze Nacht und den kommenden Morgen, ohne Erfolg. Man entdeckte nur seine Taucherausrüstung. Minuten nachdem man es mir mitgeteilt hatte, wollte ich mich unbedingt an Pascals letzte Worte erinnern. Sie fielen mir nicht ein, nur dieser eine Satz: Es gibt viele Arten zu fressen.
    Drei Monate waren seitdem vergangen. Ich drehte mich auf die Seite. Draußen war noch Tag. Das Licht drang nur spärlich in diese Ferienwohnung, die keiner wollte, weil sie am tiefsten Punkt der Schlucht lag. Zum Glück, denn Saanen war so gut wie ausgebucht. So tief die Schlucht auch war, sie lag auf tausend Metern und hieß Rüttischlucht . Pascal hatte mir oft versprochen, mich in seine Heimat mitzunehmen; nun war ich allein gekommen. Das Surreale nahm mir den Atem – allein, als was: als verheiratete Frau, als Witwe?
    »Saanen ist nicht Gstaad«, hatte Pascal erklärt. »Nur die Snobs, die sich beweisen müssen, dass sie es sich leisten können, ziehen nach Gstaad, die anderen besuchen Saanen.«
    Nun war ich ohne Pascal hier, weil ich ihn liebte. Verzweifelt und fast hoffnungslos klammerte ich mich an diese Liebe, sie ließ mich glauben, dass er noch lebte. Ich hatte Zettel in der Ferienwohnung ausgelegt. Notizen in meiner kräftigen, unweiblichen Schrift, auf denen ich aus Erinnerung Worte gebildet und rasch erkannt hatte, dass ich keine Ereignisse aufschrieb, nur meine Gedanken dazu, keine Tatsachen, nur Annahmen. Meine Sicht der Dinge genügte nicht, den Geschehnissen auf den Grund zu gehen, darum konnte ich nicht sagen: Pascal ist tot, finde dich ab und schlag das nächste Kapitel auf. Zu viele Zettel trugen rote Fragezeichen, weil ihre Fragen unergründlich waren, und das ängstigte mich. In Rio, wo ich Pascal verloren hatte, kannte ich noch keine Angst. In Rio hatte ich zu viel damit zu tun gehabt, die Geschehnisse zu bewältigen. Später erst war die Angst aufgetaucht – dass etwas nicht stimmte. Deshalb war ich hier – in Pascals Heimat musste ich rekonstruieren, was geschehen war, in seinem Land.
    Pascal hatte erzählt, das Giferhorn bilde die Grenze zweier Länder. Saanen, diesseits des Gipfels, lag im Kanton Bern, jenseits war der Kanton Wallis. Nicht die einzige Grenze; im Westen stand der Berg Vanel, dahinter sprachen die Menschen Französisch. Ein Berg, zwei Sprachen auf wenigen Kilometern. Pascal und ich hatten Deutsch und Englisch gesprochen, in meiner Heimat, Kanada, dort war er der Fremde gewesen, dort hatten wir uns kennengelernt.
    Ich bin ein Kind deutscher Eltern. Mein Vater, von Beruf Mechaniker, war nach Kanada ausgewandert, als die Kanadier von Yards und Inches, Pounds und Gallons auf das metrische System umstellten. Alle Waagen Kanadas mussten neu geeicht werden, mein Vater hatte eine Reparaturwerkstatt für Waagen eröffnet und war dabei wohlhabend geworden. Er lernte eine junge Hamburgerin kennen, die wie er drüben ihr Glück machen wollte. Sie

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