Das reine Karma 2
begann mein Bruder zu klagen, dass er in letzter Zeit nur Pech und viele Unannehmlichkeiten habe. Wir waren zu dritt.
„Sind das etwa Unannehmlichkeiten“, widersprach sein Freund. „Ich habe wirklich kein Glück. Beinahe hätte ich die Arbeit verloren, war in der Ausnüchterungszelle.“
Und sie begannen zu streiten. Ich brachte sie zum Schweigen.
„Leute, wenn einer kein Glück hat, dann ich. Ich habe Krebs, muss bald sterben.“
Sie nickten zustimmend.
„Ja, du hast Recht.“
Nach meiner Ankunft in Petersburg brachte ich die Objektträger mit den Gewebeproben und das medizinische Gutachten ins Institut für Onkologie in der Pesotschnaja. Ich beschloss, mich keiner Heiltherapie zu unterziehen, weil ich sie für nutzlos hielt. Ich wollte, dass sie dort die Diagnose stellten und sagten, wie viel Zeit mir noch verblieb, denn ich musste ja noch rechtzeitig meine Angelegenheiten ordnen. Allmählich und schichtweise entfernte ich alles, was mich mit der Erde verband. Ich erinnerte mich, wie ich vor der Operation am Urlaubsort mit meiner Frau und den Kindern am Tisch gesessen hatte. Der Tisch hatte auf dem Hof gestanden und das Laub von Weinstöcken hatte Schatten gespendet. Meine Frau hatte mit der Kelle Borschtsch auf die Teller gefüllt, während die Tochter und der sechsjährige Sohn die Löffel verteilt hatten. Plötzlich war der Sohn unter den Tisch getaucht und hatte begonnen, dort etwas zu suchen. Dann hatte ich gespürt, wie er mit dem Finger den schwarzen Fleck auf meinem Bein berührt hatte. Er war wieder hervorgekommen und hatte gesagt: „Papa, du tust mir Leid!“ Alle diese Erinnerungen riefen starken seelischen Schmerz hervor, doch je mehr meine Interessen nach oben strebten, verschwanden allmählich die Schichten des Irdischen, und ein Gefühl der Ruhe und Erleuchtung breitete sich in der Seele aus. Nur eine Frage konnte ich mir nicht beantworten: Warum war es mir gestattet, Informationen zu erschließen, die vielen Menschen helfen können? Warum muss ich gerade jetzt sterben, wo ich begonnen habe, diese Kenntnisse zu einem System zusammenzufassen? Es wäre zu verstehen, dass ich sterbe, nachdem ich es geschafft hätte, das Buch zu schreiben. Aber warum muss ich sterben, bevor das Buch abgeschlossen ist? Es gab nur zwei Varianten: Entweder ich war zu unvollkommen, sodass ich die Informationen nicht an die Menschen weitergeben durfte, oder ich wurde gereinigt, damit das Buch besser würde. Ich war zu sehr an die Erde gebunden, und auf diese Weise wurde ich von ihr getrennt. Doch ich hatte mein Leben lang Informationen erfasst und verarbeitet und dabei gespürt, dass die Menschen sie brauchen. Es machte überhaupt keinen Sinn, zu diesem Zeitpunkt zu sterben. Doch mit dieser Diagnose würde mir das Buch wohl kaum gelingen. Als ich das alles überdachte, zuckte ich unwillkürlich die Achseln. Einzig und allein ein Wunder könnte allen Varianten gerecht werden. Die Gewebeproben zwischen den Objektträgern, die ich im Institut abgegeben hatte, müssten zu anderen Analyseergebnissen führen. Ich wartete gespannt darauf, welches Szenario man da oben ausgewählt hatte. Einige Tage später saß ich im Institut der Ärztin gegenüber.
Die nette schwarzhaarige Frau suchte lange in den vor ihr liegenden Krankengeschichten, bis sie endlich meine in der Hand hielt.
„Wir haben eine sorgfältige histologische Untersuchung durchgeführt. Die erste Diagnose hat sich nicht bestätigt.“ Ich konnte das nicht fassen.
„In Sotschi hat diese Objektträger ein Konsilium aus acht Ärzten betrachtet. Wollen Sie sagen, dass diese sich geirrt haben?“
„Sind Sie unzufrieden?“, fragte sie.
Nein, ich war vollkommen zufrieden. Und dann dachte ich lange nach: „Wer hat sich geirrt?“ Und ich kam zu dem Schluss, dass sich niemand geirrt hatte. Es scheint, dass der Geisteszustand des Menschen sogar mit histologischen Untersuchungen in Verbindung steht.
Ich erinnerte mich an ein russisches Volksmärchen, in dem der Held den Eltern sagt: „Wenn auf meinem Hemd Blut erscheint, dann bin ich umgekommen.“ In dem Märchen wurde das ausgedrückt, was real war, doch nicht mit üblicher Logik erklärt werden konnte. Es scheint, dass sich ein solches Märchen mit mir ereignet hatte.
Ich verließ das Institutsgebäude und ging die grüne Allee entlang zur Haltestelle. Eine halbe Stunde lang verspürte ich unvergleichliche Freude. Doch bald machte sie Wehmut und großer Beklemmung Platz.
Drei Tage lang lief ich verstört
Weitere Kostenlose Bücher