Das Riff der roten Haie
aus den Angeln gehoben. Er hat eine Welle geschickt. Groß wie ein Berg.« Sie nickte: Nicht nur Himmel und Meer, die Welt war aus den Angeln.
Er kroch an ihr vorbei, kam mit einem Kissen wieder und schob es unter ihren schmerzenden, nassen Rücken. Ihre Zähne begannen zu zittern, schlugen gegeneinander. Sie konnte den Kiefer nicht beherrschen und nicht den Magen, der sich immer und immer wieder zusammenkrampfte.
»Wo ist er …«
»Ovaku? – Dort.«
Sie sah ein dunkles Deckenbündel in der Ecke. Sie wollte aufstehen.
»Laß ihn. Er ist bewußtlos. Und das ist gut so. Es geht vorüber.«
Ihr Kopf sank nach vorne. Nichts würde vorübergehen. Es war doch schon alles geschehen. Der Regen würde ewig auf sie herabstürzen, und die Welle würde wiederkommen.
»Wa'tau ist tot «, sagte ihr Bruder da leise …
***
Zweimal bereits hatte der alte Antau die Frau mit dem unförmigen schwangeren Bauch vom Eingang zurück in die Höhle gescheucht. Diesmal rannte sie in den Regen hinein, warf anklagend beide Arme zum Himmel, und ihr Schrei, dieser verzweifelte Schrei aus dem wie in Trance zurückgeworfenen Kopf übertönte selbst Orkan und Regen.
»Mein Kind«, schrie die Frau. »Mein Junge. Gib ihn mir! Gib ihn mir!« Sie schrie es immer und immer wieder.
Antau riß sie zurück.
»Du wirst ihn finden«, brüllte er. »Hör endlich auf! Der Junge ist in einer anderen Höhle. Geh zurück zu deinem Kleinen. Oder haben die bösen Geister dir den Verstand gefressen?«
Wasser stürzte vom Himmel, ganze Flüsse hatten sich am Berg aufgetan. Die Felsbrocken und Steintrümmer, die sie mitführten, ließen den Boden zittern, aber in die Höhle drang das Wasser nicht.
Ein Art Kanal hatte sich gebildet, führte vom Eingang in einen Felsspalt und von dort wohl in eine noch tiefere Bergkammer, vielleicht in ein ganzes unterirdisches Labyrinth, in dem die Erdgeister hausten. Nein, hier konnte ihnen das Wasser nichts anhaben. Seit Jahren hatten die Menschen der Insel im Bauch des Berges Zuflucht gefunden.
Der Boden war trocken. Lanei'ta hatte Jacky in eine Decke gewickelt und auf diesen wunderbar trockenen Boden gelegt. Und während die anderen Kinder sich stumm und verstört wie kleine Tiere an ihre Mütter und Schwestern drängten, lag Jacky, die Knie angezogen, und hatte den Daumen im Mund.
»Er schläft«, flüsterte Hendrik überwältigt. »Tatsächlich – er schläft …«
Er streichelte Lanei'tas Schulter. Sie war es gewesen, die Jack Willmores Sack in einer unglaublichen Kraftanstrengung die Wasser- und Orkanhölle bis hinauf in die Höhle geschleppt hatte … Und im Sack waren Decken, Windeln, Nahrung, ein Regenmantel, Jack Willmores Taschenlampe, Lebensmittel für den Kleinen. – Und noch dazu Hendriks Arzttasche. Es war wirklich unglaublich!
Die Tasche konnte er gebrauchen. Er hatte bereits zwei Platzwunden versorgt und einer Frau und drei schreienden Kindern Beruhigungsmittel verabreicht. Nun ging er hinüber zu Antau.
Am Höhleneingang, der sich wie ein Froschmaul im schwarzen Naß der Felswand öffnete, war das Orkan- und Wassertoben so laut, daß man schreien mußte, wollte man sich verständigen.
»Geht bald vorbei«, schrie Antau.
Bald? Was ist das? Was war nun aus Minuten, Stunden, was war aus der Zeit geworden? … Wie lange hockten sie schon in der Höhle?
Der alte Mann strich mit der Hand Nässe aus den grauen Haaren. Er schüttelte sich. »Bald wird es still sein … Nicht allzu lange … dann wird es wieder anfangen. – Nicht ganz so schlimm …«
Es wird still sein? – Er meinte das Auge des Hurrikans, sein Zentrum. Der verdammte Hurrikan brach ja nicht zusammen, er rotierte, und seine Mitte bedeutete einige Minuten trügerische Ruhe. Vielleicht würde es still werden. Wie viele Minuten konnten es sein? Es hing von der Stärke des Hurrikans ab. Vielleicht war dann Zeit genug, um zu sehen, was aus Tama, Ron und den anderen geworden war.
Tama und Ron … Er konnte nichts anderes denken, seit er sich in Sicherheit wußte.
Antau zog ihn ins Höhleninnere. In die nasse braune Haut zogen sich tiefe Falten. »Ich weiß, was G'erenge uns schickt.« Er hob die Faust und ließ einen Finger nach dem anderen aufspringen. »Neun solcher Stürme habe ich in meinem Leben erlebt. Weißt du, was das heißt? Einmal war ich sogar mit dem Kanu draußen auf dem Meer. Der Sturm hat mich wie einen toten Fisch auf die Klippen geworfen. – Aber ich lebe immer noch.«
Hendrik schwieg. – Wo steckten Ron und Tama?
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