Das Riff der roten Haie
…
»Weiter!« brüllte er.
Sie liefen. – Weiter! hämmerte es in ihm. Na wird's schon, los! Gleich fängt der Zirkus von neuem an!
Er sah ertrunkene Schweine, tote Hühner, tote Hunde. Und alle vom gleichen Braun eingefärbt, umschlossen von einem Panzer aus Lehm und Schlamm. Aber keine Menschen, keine Lebenden und – Gott sei Dank – auch keine Leichen.
Wahrscheinlich war diese Anstrengung vollkommen sinnlos. Was auch geschehen sein mochte, eine Flutwelle, die die Kraft besaß, eine Yacht wie die ›Paradies‹ bis in den Palmenhain zu schleudern, hatte alles mitgenommen, fortgespült, was noch atmete. Und deshalb …
»Hendrik!«
Eine Stimme. Sie hing schrill wie ein Vogelschrei über dem allgegenwärtigen Rauschen.
Es war Tamas Stimme!
»Tama!« Er rannte an Antau vorbei, strauchelte, lief weiter. Schlamm triefte aus seinen Haaren. »Komm, Antau! Sie lebt!«
Ja, sie lebt. Doch wo war sie? Als er sich schweißüberströmt und keuchend durch das Pflanzengewirr gearbeitet hatte und der Rumpf der ›Paradies‹ schon zum Greifen nahe schien, sah er etwas, das lebte, leben mußte, weil es sich bewegte, weil es auf ihn zugekrochen kam, etwas, das aussah wie eine braune Schlange im Lehm. Jetzt erhob es sich, entfaltete Arme und Beine und besaß als Gesicht nur eine braune Schlammaske, in die Augenschlitze geschnitten waren. – Tama! Mein Gott, Tama …
Er ging zu ihr. Sie hustete. Er fuhr ihr mit der Kante der Hand über die Wangen, versuchte sie zu säubern wie eine Mutter ihr Baby.
»Ovaku ist dort, Hendrik … Im Schiff. Auf der anderen Seite kann man rein …«
Auf der anderen Seite war auch Afa'Tolou. Und Afa sah nicht viel besser aus als seine Schwester.
»Wo!« schrie Hendrik ihm zu.
»In der Kajüte.«
»Was ist mit ihm?«
Das Schlammgespenst, zu dem Afa geworden war, sah ihn nur an.
Über einen abgebrochenen Palmenstamm kletterte der Arzt an Deck. Und von dort suchte er sich halb kriechend einen Weg in den Salon der ›Paradies‹. Und dort, im Dunkeln, in einem Winkel auf einer aus den Angeln gerissenen Tür, die Afa ihm wohl untergeschoben hatte, lag Ron.
Es gab keine Fragen zu stellen. Jede Untersuchung erübrigte sich. Die Verbände hatten sich gelöst. Die Armschiene mußte er irgendwann und irgendwo verloren haben. Der Arm hing nutzlos, schlaff und bläulich verfärbt in seinem Gelenk.
»Ron …«
Ron rührte sich nicht. Er stöhnte auch nicht. Die Augen aber waren geöffnet. Er mußte fürchterliche Schmerzen haben, doch auf seinem Gesicht stand jener Ausdruck maskenhafter Ruhe, den Hendrik Merz so oft bei Schwerverletzten erlebt hatte, wenn die Grenze des Erträglichen überschritten war.
»Ron, geht dir gleich besser.«
Es kam keine Reaktion.
Hendrik öffnete seine Tasche, nahm die Morphiumspritze, ertastete sich an dem angezogenen Unterschenkel eine passende Stelle und stach ein. Auch jetzt kein Zucken. Er ließ die Hand liegen, wo sie war, und wartete. Und er spürte, wie sich die Muskeln entspannten.
Jemand drückte an seinem Rücken. Und dann kam Tamas Stimme aus dem Halbdunkel: »Hendrik … Sag doch, Hendrik, wird er …«
»Natürlich wird er. Ich bring' ihn schon durch. Einer wie Ron kommt immer durch. Ich habe ihm Morphium gegeben … Aber jetzt, Tama, jetzt geht's um jede Minute, verstehst du? Wir können nicht hier bleiben. Und wir können Ron auch nicht hier lassen. Wir müssen ihn hinauf in die Höhle bringen. – Wo ist Afa?«
»Unten. Bei Antau.«
Und dann sagte sie: »Wa'tau ist tot …«
Wa'tau? – Er versuchte sich vorzustellen, was es bedeutete und was alles vorausgegangen sein mußte, wie es kommen konnte, daß ein Schiff von der Größe der ›Paradies‹ gleich einem Spielzeug in den Palmenwald geschleudert wurde.
Doch da sagte sie: »Er ist schon in der Bucht gestorben … Ron war mit ihm in der Bucht. Die Haie haben Wa'tau zerrissen …«
In der Bucht? Sie waren in der Bucht? Sie mußten doch gesehen haben, welch ein Unwetter sich zusammenbraute! Nur ein Irrer wie Ron konnte auf diesen Einfall kommen.
Der alte Zorn erwachte wieder. Aber wenn er je fehl am Platze gewesen war, dann jetzt. Wa'tau war Tamas junger Bruder gewesen. Einen hatte sie bereits verloren, den ältesten. Um so wichtiger war es, Ron durchzubekommen …
»Es muß schnell gehen, Tama. Was ich jetzt brauche, sind Stricke oder Gurte oder so etwas Ähnliches. Ich werde ihn auf dieser Tür festbinden. So kann ich einigermaßen seinen Körper stabilisieren. Und mit der
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