Das Riff der roten Haie
und trieb das Boot mit schäumender Heckwelle auf die ›Paradies‹ zu, die dort unten, in der Mitte der Lagune, verankert war. Ihr leuchtendes Weiß wirkte vor all dem Grau fast unwirklich.
Er liebte dieses Schiff! Liebte es, wie nur ein Mann sein Boot lieben kann. Er liebte es nicht allein wegen der Vollkommenheit der Linie und der hervorragenden Fahreigenschaften, er liebte es auch, wie ein Gefangener den Gefängnisschlüssel liebt. Die ›Paradies‹ war sein Symbol der Freiheit. Tonu'Ata, die vergessene Insel, mochte hundertmal seine Heimat geworden sein, aber ihr Geheimnis, ihre Verlorenheit, die Tatsache, daß sie auf keiner Karte verzeichnet war, umschloß sie wie die Wasserwüste. Die ›Paradies‹ gab Ron die Möglichkeit, Tonu'Ata zu versorgen – aber auch jederzeit von hier auszubrechen.
Er machte die Leine an der Heckleiter fest und kletterte hoch. Am rechten der beiden Leiterholme hatten sich schon wieder Muscheln angesetzt. Die mußten weg. Aber das hatte Zeit.
Und jetzt, als er oben stand, beide Hände aufs Schanzdeck gestützt, und den vertrauten Geruch in sich einsog, den Geruch des Ozeans und der Mangroven, die dort drüben wuchsen, jetzt wußte Ron Edwards glasklar, daß es gut war, was er vorhatte, und daß es für ihn keinen anderen Weg mehr gab als diesen …
***
In einem Stauschapp der ›Paradies‹ hatte er zufällig eine alte Ausgabe des National Geographic-Magazins gefunden. Die Werftarbeiter von Henri Latour et fils in Papeete, die das Schiff damals, vor zwei fahren, für ihn klargemacht hatten, waren wohl zu faul gewesen, das Heft wegzuwerfen.
Ron war froh darüber, denn es brachte eine Reportage über Haie, und unter all den Dingen, die da standen und ihn brennend interessierten, hatte sich vor allem ein Passus in sein Gedächtnis eingegraben:
»Es sind die großen Exemplare der über zweihundertzwanzig Haispezies«, hatte der Verfasser, ein Australier, geschrieben. »Es sind die Haie, die in der Tiefe leben, der Blau- oder Menschenhai, der Grauhai, der ›große Weiße‹ und der Hammerhai, die über einen ausgeprägten Instinkt für das Heraufkommen von Wetterveränderungen verfügen, die ihnen eventuell zusetzen könnten.«
Bei Sturmgefahr, las Ron weiter, suchten die großen Raubfische das offene Meer schon deshalb auf, weil sie als Fische ohne Schwimmblase ständig gezwungen seien, sich zu bewegen und daher nicht nur bei Unwetter ihre Manövrierfähigkeit einbüßen könnten, sondern sich dazu dem Risiko aussetzten, von den Wellen gegen die Klippen gedrängt oder auf den Sand gesetzt zu werden …
An sich war es schon unglaublich, daß sich eine Handvoll von diesen Biestern ausgerechnet die Bucht als Spielplatz ausgesucht hatte und den Menschen das Perltauchen verwehrten. Und was die Tiefe anging – die Bucht war tief, er hatte sie schließlich mit dem Echolot vermessen, und das Gerät hatte ihm in der Buchtmitte tausend Fuß, mehr als dreihundert Meter also, gemeldet. Sie fühlten sich also nicht nur wohl, die Drecksbiester, sie hatten ihm dazu – auch in Tamas Augen – den ›Fluch der Götter‹ an den Hals gehängt: Das Tabu!
Doch selbst Haie haben Schiß.
Zumindest vor einem Sturm in Küstennähe …
Ron kletterte die schmale Leiter zum Sonnendeck hoch, um zum Steuerstand zu gehen. An der Entlüftungsverkleidung blieb er nochmals stehen.
Drüben, am Ufer, waren die Boote inzwischen fast alle an Land gezogen. Jetzt begannen die Fischer sogar die Netze von den Trockengestellen zu nehmen. Der Himmel zeigte noch immer dasselbe diffuse, diesige Grau. Keine Wolkenformation, die sich abgezeichnet hätte. Passatwinde sind Westwinde, die Stürme wurden meist im Osten geboren, aber auch dies war nichts als eine Faustregel. Die Stürme konnten aus allen Richtungen kommen.
Die Dünung war stärker geworden. Die langen, flachen Täler waren auf der bewegten grauen Oberfläche des Meeres deutlich zu erkennen. Auch der Gischt am Riff stand höher als sonst.
Na und? dachte er, als er im Cockpit den Anlasserknopf der Ankerwinsch drückte. Das Rasseln der Kette begann.
Okay. Jetzt werden wir's ja sehen. Und vielleicht ist die Bucht nicht nur heute frei von Haien, vielleicht ist sie es für lange Zeit wieder. Und genau das wirst du beweisen. Allen! Tama ebenso wie den anderen. – Nun, die wissen es nicht besser. Doch vor allem werde ich es dir zeigen, Nomuka'ta, dir oder deinem gottverfluchten Geist oder was immer es auch sein mag, das sie alle verrückt macht. Zum Teufel,
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