Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
nicht aus uns selbst.
Die Legende singt von spitzen Fängen, die sich in Schlagadern bohren. Von Blut. Von Macht und von Tod.
Und schlimmer noch, der Abwesenheit von Tod.
Fritjof Hußmann war Mitte vierzig, hatte kreisrunde Brillengläser und einen Kugelbauch. Die Falten in seinem Gesicht umspielten mehrheitlich die Mundwinkel, nur einige wenige hatten den Weg bis auf seine Stirn gefunden. Er war, mit anderen Worten, einer von der gemütlichen Sorte.
Umso beunruhigender war es, diesen sonst so häufig lächelnden Mund plötzlich unheilvoll schnaufen zu hören.
„Lea“, schnaufte er.
„Ja, Herr Hußmann?“, erwiderte sie leise. Zugegeben, Hußmann war leicht außer Puste zu bringen, es war sein Glück, dass Gott ihn zu einem Deutschlehrer gemacht hatte und nicht etwa zu einem für Sport – aber dieses Geschnaufe bloß wegen eines Aufsatzes? Ihres Aufsatzes?
„Was machen wir mit dir, Lea?“
Klang nicht gut. Lea blieb regungslos und mit erstarrter Miene sitzen, entschlossen, alles durchzuhalten, was sich hier ankündigte.
„Lea, ich will ehrlich sein.“
Mach es kurz, dachte sie, was immer es ist.
„Dein Stil ist wunderbar. Wirklich, nichts auszusetzen. Na schön, ich würde vielleicht nicht ganz so viele Punkte setzen: Von Blut. Punkt. Von Macht und von Tod. Punkt. Ja, ein bisschen viel vielleicht. Und der Ausdruck 'ob wir an es glauben' ist ein wenig unglücklich, es müsste zumindest heißen: ob wir daran glauben. Aber dann wird der Satz wieder uneindeutig, möglicherweise müsste man ihn komplett umformulieren. Wie dem auch sei, das sind alles Kleinigkeiten.“
„Und was ist keine Kleinigkeit, Herr Hußmann?“
„Keine Kleinigkeit, Lea“, fuhr er fort, „ist die Tatsache, dass, mit Verlaub, das Thema dieses Aufsatzes lauten sollte: Urlaubserinnerungen. Urlaubserinnerungen , Lea.“
„Ich weiß.“ Langsam wurde sie missmutig. Und trotzig.
„Und du und deine Familie, ihr habt also den Urlaub unter nächtlichen Monstern und in unerhellbarer Finsternis verbracht? War das ein angenehmer Ausflug?“ Die Klasse lachte kurz, niemand hatte gewusst, dass Hußmann sarkastisch werden konnte.
Lea sagte nichts. Was sollte sie auch sagen? Dass sie in den Sommerferien gar nicht im Urlaub gewesen war, weil ihr Vater geschäftlich so viel zu tun hatte und ihre Eltern ihr nicht erlaubten, ohne sie zu verreisen – mal abgesehen davon, dass das Geld wie immer knapp war? Dass sie stattdessen jeden Tag frustriert auf ihrem Bett gelegen und sich ausgemalt hatte, wie die anderen alle an sonnenbeschienenen Stränden lümmelten? Dass sie jeden Abend sehnsüchtig darauf gewartet hatte, dass in diesem tristen Städtchen endlich mal etwas passierte ? Und dass sie dann wieder angefangen hatte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn jetzt eines ihrer Lieblingsgeschöpfe vor dem Fenster auftauchen würde, ein Lestat, ein Dracula, ein großgewachsenes, atemberaubend schönes Ungeheuer, das sie in den Arm nehmen und mit ihr davonfliegen würde, sie entführen auf ein fernes Schloss in Frankreich (oder Transsilvanien), sie gefangenhalten, während ihre Familie sie verzweifelt in der ganzen Welt suchte, aber ihre Eltern würden zu spät kommen, er würde sie nach Monaten der Gefangenschaft in einem fünfzig Meter hohen Turm schließlich zu einer der Seinen machen, zu einem Vampir, einem Blutsauger, und sie würde sanft die beiden kleinen Bisswunden befühlen und ihrem Lestat (oder Dracula) ewige Treue schwören, und er würde sie mit seinem flammenden, leidenschaftlichen Blick fixieren, ja, seine Augen würden lodern, und er würde auf Französisch (oder Rumänisch) erwidern: Ewig ist ein großes Wort für unsere Art, meine Liebste ...
Na schön, Urlaubserinnerungen waren das nicht unbedingt. Im Grunde hatte Hußmann ja recht. Also tat Lea das Nächstliegende: Sie widersprach!
„Ich habe mich an das erinnert, was mich in der Urlaubszeit beschäftigte, Herr Hußmann. Wie würden Sie den Begriff 'Urlaubserinnerungen' definieren?“
Hußmann sah sie mit unverhohlener Abneigung an. „Ich weiß, dass du in dem Ruf stehst, nicht auf den Kopf gefallen zu sein, Lea“, schnaubte er. „Die Kollegen erzählen sich einige Geschichten über dich und deine Neigung, den zweifellos vorhandenen Grips vornehmlich für schlagfertige Bemerkungen einzusetzen. Ich muss dich allerdings warnen. Das ist nicht die Art, wie man erfolgreich durch die Schulzeit kommt. Besonders nicht in meinem Unterricht.“
„Tut mir leid“, murrte
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