Das rote Band
Er hob die Hand und wischte zärtlich ihre Tränen ab. „Du hattest doch versprochen, nie mehr zu weinen, wenn wir den Rest unseres Lebens zusammenbleiben?“, fragte er leise und lächelte. Dann griff er in seine Tasche und zog die silberne Kette mit dem Bernsteintropfen heraus und legte sie Joanna um den Hals.
Sie strahlte ihn an. „Jetzt sollten wir aber den Pfarrer und unsere Gäste nicht mehr warten lassen, oder?“
Ian reichte ihr die Hand, und sie drehten sich gemeinsam zum Altar. Der Pfarrer begann die Trauungszeremonie: Gebete und Lieder wechselten einander ab, deren Worte Ian kaum ins Bewusstsein drangen. Er hielt Joanna fest an der Hand, und die Unglaublichkeit des Moments drohte ihn zu überwältigen.
Inzwischen hatte der Pfarrer mit dem Ehegelübde begonnen. „Und so frage ich Euch, Ian, Viscount of …“
Die Tür des Festsaales öffnete sich.
„… Highfalls, ob Ihr die hier Anwesende, Lady ...“
„Nein!“
Victorians Schrei dröhnte durch den Festsaal, und er rannte mit erhobenem Schwert auf den Altar zu, ohne auf die entsetzten Rufe rechts und links von ihm zu achten. „Der Viscount of Highfalls wird Eloïse nicht heiraten, oder er stirbt.“
Ian fuhr herum und zog sein Schwert, sein Gesicht zu einer Maske versteinert.
Victorian hielt im Laufen inne und starrte Ian ungläubig an. „Aber …?“, stotterte er. Als Joanna sich ebenfalls umdrehte, erbleichte er und ließ sein Schwert sinken. „Das kann nicht sein. Der Viscount … Eloïse …?“
„Victorian, ich bin hier.“ Eloïse hatte sich durch die Reihen gekämpft und packte Victorian am Arm. „Komm sofort mit nach draußen, bevor du dich noch weiter zum Idioten machst oder Ian dich umbringt.“ Sie zerrte ihn zum Ausgang, begleitet von dem aufgeregten Gemurmel der Gäste.
„Ich bitte um Ruhe“, der Pfarrer legte all seine Würde in seine Stimme, „damit wir diese Trauung weiter vollziehen können.“ Stille kehrte im Saal ein, und der Geistliche begann erneut, die Formel des Eheversprechens vorzutragen.
Leise zog Eloïse die Tür des Festsaales hinter sich zu. „Was sollte das gerade, Victorian?“, zischte sie.
Er ignorierte ihre Frage. „Schön, dass du noch mit mir sprichst, Eloïse.“ Er war so glücklich, dass sie nicht verheiratet war.
Sie lächelte wehmütig. „Ich kenne jetzt die Gründe für dein Verhalten mir gegenüber. Ich heiße es nicht gut, aber es ist bestimmt schwer für dich, anders zu sein. Trotzdem wäre es nett gewesen, du hättest mir von deinen Neigungen berichtet.“
Verständnislos blickte er sie an. „Welche Neigungen?“
„Ich verurteile dich deswegen nicht, und daher musst du mich nicht weiter anlügen“, erwiderte sie ungeduldig.
Victorian runzelte die Stirn. Wovon in aller Welt sprach sie? „Möglicherweise hat der viele Wein mein Gehirn zerstört, aber ich kann dir nicht folgen.“
Sie seufzte. „Du hattest dich in Korin verliebt, und Eloïse war danach nur ein billiger Ersatz. Das Beste, was du unauffällig bekommen konntest. Deshalb warst du in Walraven am Morgen so wütend: Du hast dich geekelt, mit einer Frau im Bett gewesen zu sein. Nachts im Dunkeln konntest du dir wenigstens noch einbilden, ich sei ein Mann.“
„Was?“ Empört sah er sie an. „Du glaubst ernsthaft, ich sei Männern zugeneigt?“
„Ich glaube es nicht, ich weiß es“, erklärte Eloïse. „Amira hat es mir gesagt, und ich vermute, nicht nur mir. Es war der Grund, warum sie die Verlobung hat auflösen lassen.“
Victorian hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Oh mein Gott! Alle denken, ich sei …?“
Eloïse nickte, und Victorian fuhr sich über das Gesicht. Wie hatte Amira ihn öffentlich nur so bloßstellen können? Er musste sein Ansehen dringend reinwaschen, doch zuallererst musste er Eloïse überzeugen, dass seine ehemalige Verlobte gelogen hatte. „Aber, wenn ich an Frauen nicht interessiert bin“, keuchte er, „warum hätte ich dann heiraten wollen?“
„Zur Tarnung und um deine Nachkommenschaft zu sichern“, erwiderte sie prompt.
Es dauerte eine Weile, bis er sich soweit gesammelt hatte, um weitersprechen zu können: „Eloïse, ich interessiere mich nicht für Männer, nur für Frauen. Das schwöre ich, und du musst mir glauben! Ich komme gerade vom Königshof. Dort habe ich mit Amira gesprochen und ...“
„Du wolltest sie zurückholen?“, fragte sie bitter.
„Nein, lass mich bitte ausreden.“
„Ich will es nicht hören!“, rief sie
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