Das Rote Kornfeld
einen Körper, der sich so lange im Schmutz des städtischen Lebens gesuhlt hatte, dass fauliger Gestank aus allen seinen Poren quoll. Ich hatte schon viele Grabstätten besucht, doch jetzt stand ich vor dem Grab der Frau, deren kurzes und ruhmreiches Leben eine ganze Seite in dem Buch füllte, das die Geschichte der Helden und Schurken meiner Heimat aufzeichnet. Die unheimlichen, überweltlichen, jenseitigen Aspekte ihres Todes rühren an ein Geheimnis, das seit langem in den ländlichen Seelen der Gemeinde Nordost-Gaomi geschlummert hat. Es ist ein Geheimnis, das tief verborgen keimt, heranwächst, erstarkt und schließlich zu einer mächtigen ideologischen Waffe wird. Nur diese Waffe ist einer Welt gewachsen, die versteckt und unbekannt, zähflüssig, dunkelrot und süß durch die Erinnerungen der ältesten Dorfbewohner fließt.
Jedes Mal, wenn ich ins Dorf komme, enthüllt sich die Macht des Geheimnisses in den trunkenen Augen der Dorfältesten. Ich will nicht vergleichen, nicht Dinge und Begriffe einander gegenüberstellen; aber der Zwang zum logischen Denken reißt mich in einen Wirbel von Vergleichen und Gegenüberstellungen. Nach zehn Jahren in der Fremde drängt sich mir die erschreckende Erkenntnis auf, dass man die vertraute Schönheit dieser trunkenen Augen nur noch in den zerbrechlichen Augen von schwarzgefleckten Hauskaninchen finden kann, die grenzenlose Sehnsucht so rot gefärbt hat wie die frischen Früchte des Hagedorns. Vergleich und Gegenüberstellung zeigen, dass es zwei Arten von Menschen gibt. Alle Menschen entwickeln sich so, wie sie es selbst entschieden haben, und jeder sucht nach seinem eigenen System von Werten, das ihn ins Reich des Vollkommenen führt. Doch mich befällt die Furcht, auch meine Augen könnten diesen schlauen Blick annehmen, mein Mund werde Worte aussprechen, die schon vor mir andere immer wieder benutzt haben, und ich selbst werde mich in eine gut verkäufliche Ausgabe von Reader’s Digest verwandeln.
Dann springt meine Zweite Großmutter aus dem Grab. In der Hand hält sie einen goldschimmernden Bronzespiegel. In den Winkeln ihrer wulstigen Lippen kräuseln sich die tief eingegrabenen Linien ihres spöttischen Lächelns. «Du bist nicht mein Enkel! Sieh dich nur im Spiegel an!»
Ihre Kleider flattern im Wind, alles ist wie damals, als man sie in den Sarg legte, und doch ist sie jünger und lieblicher, als ich je geträumt hätte. Die Botschaft, die ihre Stimme verkündet, beweist, dass sie unendlich viel weiser und tiefsinniger ist als ich. Ihre Gedanken sind freiheitlich, würdevoll, biegsam und doch ruhig und fest. Die meinen schweben ungewiss in der Luft wie das durchsichtige Rohrblatt einer Flöte.
Ich betrachte mein Bild in dem Spiegel, den mir Zweite Großmutter vorhält. Es ist, wie ich befürchtet habe. Der kluge Blick eines Hauskaninchens leuchtet in meinen Augen. Worte, die anderen, nicht mir, gehören, dringen aus meinem Mund, wie die Worte, die der Mund meiner Zweiten Großmutter auf dem Totenbett sprach, anderen, nicht ihr gehörten. Meinen Körper bedeckt die Zustimmung der Prominenz.
Ich empfinde tödliche Furcht.
«Enkel», sagte meine großmütige Zweite Großmutter, «komm nach Hause ! Tust du es nicht, bist du verloren. Ich weiß, dass du nicht heimkehren willst, dass du Angst vor den Fliegenschwärmen hast, Angst vor Wolken von Moskitos, Angst vor den beinlosen Schlangen, die über die feuchte, hirsetragende Erde gleiten. Du verehrst Helden und verabscheust Schurken, aber wer von uns ist nicht der größte Held und der größte Schurke zugleich? Jetzt stehst du vor mir, und ich rieche den Kaninchengeruch, den du aus der Stadt mitgebracht hast. Auf, spring in den Schwarzwasserfluß, lass dich drei Tage und drei Nächte treiben. Meine einzige Sorge ist, dass die Katzenfische im Fluss den Gestank deines Körpers einsaugen werden, und dann werden ihnen Kaninchenohren wachsen.»»
Zweite Großmutter kehrt schnell ins Grab zurück. Die Hirse steht aufrecht und schweigend, die Sonnenstrahlen sind feucht und glühend heiß, es weht kein Wind. Der Duft der Wildkräuter auf dem Grab füllt meine Nase. Es ist, als sei nichts geschehen. In der Ferne höre ich die Gesänge der Bauern, die ihre Felder bestellen.
Die Hirse rund um Großmutters Grab ist eine hybride Zuchtsorte, die von der Insel Hainan stammt. All die üppig grüne Hirse, die heutzutage die reiche schwarze Erde der Gemeinde Nordost- Gaomi bedeckt, ist Hybridhirse. Die rote Zuckerhirse, die
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