Engelsfuerst
D
er mit plötzlicher Wucht einsetzende Regen
ließ Elena Vida zusammenzucken, und unwillkürlich umklammerte sie das Lenkrad fester. Ein heftiger Windstoß rüttelte an dem Fiat 500. Nur mit
Mühe konnte sie den Wagen, einen wahren Oldtimer, für den mancher Autonarr ein kleines Vermö
gen hingelegt hätte, auf dem glitschigen Pflaster der
Via Appia halten. Das schwarze Gummi der Scheibenwischer kämpfte tapfer gegen den Regen an, und
die gelblichen Lichtfinger der Scheinwerfer zerfaserten vor ihr in der Abenddämmerung. Die Häuser
und Bäume zu beiden Seiten der alten Ausfallstraße
verschwammen zu schemenhaften Gestalten wie aus
einer anderen Welt.
Hinter ihr, keinen Kilometer entfernt, lag Rom,
aber im Rückspiegel war von der Ewigen Stadt nichts
mehr zu sehen. Die Welt löste sich auf, und Elena
fühlte sich wie eine Schiffbrüchige in einem Meer aus
Regen, Sturm und Finsternis.
»Reiß dich zusammen!« ermahnte sie sich. »Das ist
nichts weiter als ein Herbststurm, und du könntest
diese Straße auch mit geschlossenen Augen fahren.«
Sie schüttelte unwillig den Kopf. Wenn sie anfing,
Selbstgespräche zu führen, war das kein gutes Zeichen. So etwas taten Leute, die nicht ganz richtig im
Kopf waren – oder sich einsam fühlten. Obwohl sie
genau das vermeiden wollte, tauchte das Bild eines
Mannes vor ihrem inneren Auge auf: feste Züge, ein
markantes Kinn und ausdrucksvolle Augen, umrahmt
von rotbraunem, leicht gelocktem Haar. Ein Gesicht,
in das eine Frau sich leicht verlieben konnte; ein
Mann, den man nur schwer vergaß. Aber wollte sie
das überhaupt, ihn vergessen?
Sie zuckte erneut zusammen und fluchte lautlos,
als der Sturm einen abgerissenen Ast gegen die
Windschutzscheibe schleuderte. Um ein Haar hätte
sie das Steuer verrissen und wäre dann wohl gegen
eine der alten Pinien geprallt. Sie atmete tief durch
und versuchte, sich ganz auf die Straße zu konzentrieren – und auf das, was an diesem Abend vor ihr
lag.
Eine Frage stellte sie sich wieder und wieder: Was
in Gottes Namen hatte Monsignore Picardi bewogen,
diesen abgelegenen Treffpunkt vorzuschlagen? War es
nur der Wunsch nach Geheimhaltung? Das angesichts
seiner Position verständliche Verlangen, als Informant
der bekannten Vatikanjournalistin Elena Vida unerkannt zu bleiben? Oder steckte noch mehr dahinter,
Angst, Todesangst vielleicht?
Er hatte nervös geklungen am Telefon; sie hatte
eher das Flüstern eines in die Enge getriebenen Verfolgten gehört als den selbstbewußten Ton, den sie
vom Stellvertretenden Direktor der Vatikanbank gewohnt war. Noch zwei Tage zuvor hatte sie im Vatikan einem Rosario Picardi gegenübergesessen, an dem
all ihre Fragen zu möglichen Unregelmäßigkeiten in
den Bilanzen der Vatikanbank einfach abgeprallt waren. Er hatte die Informationen, die ihr vorlagen, als
haltlose Gerüchte abgetan und ihr zum Abschied auf
fast gönnerhafte Weise geraten, ihre »zweifellos vorhandenen journalistischen Fähigkeiten«, wie er es mit
einem kühlen Lächeln formulierte, an »lohnenswerteren Themen zu erproben«. Und Elena war kurz davor
gewesen, dem selbstzufriedenen Monsignore eine Ohrfeige zu verpassen.
Um so überraschter war sie gewesen, als er sie am
späten Abend noch anrief, und zwar nicht aus dem Vatikan. Jedenfalls hatte das Display ihres Telefons weder
die Nummer der Vatikanbank noch eine andere angezeigt. Natürlich konnte Picardi die Rufnummerunterdrückung eingeschaltet haben, aber das erschien ihr widersinnig, hatte er sich doch mit seinem Namen gemeldet. Hastig hatte er um eine Unterredung noch am selben Abend gebeten – obwohl es schon auf Mitternacht
zuging –, weil er wichtige Informationen für sie hätte.
Er hatte ihr den seltsamen Treffpunkt genannt und beinahe flehend hinzugefügt: »Sagen Sie zu niemandem ein
Wort darüber, Signorina Vida, und vergewissern Sie
sich, daß Ihnen niemand folgt!« Bevor sie noch etwas
erwidern und nach dem Grund für seine Erregung fragen konnte, hatte er das Gespräch unterbrochen.
Elena hatte in ihrem Job als Vatikanistin schon einiges erlebt, darunter etliche verängstigte Informanten, und doch fand sie es merkwürdig, daß ein so hohes Tier wie Picardi sich aufführte wie ein Kleinkrimineller auf der Flucht vor der Polizei. Sie nahm sein
Verhalten als untrüglichen Hinweis darauf, daß der
Stellvertretende Direktor des IOR, des Institute per le
Opere di Religione (Institut für die religiösen Werke),
wie die Vatikanbank offiziell
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