Das Rote Kornfeld
einem Meer von Blut glich, die Hirse, deren Lob ich immer wieder gesungen habe, ist in der tobenden Flut der Revolution ertrunken. Sie existiert nicht mehr. Sie wurde verdrängt von kurzstieliger, dickstämmiger, dichtblättriger Hybridhirse, die ein feines weißes Pulver bedeckt und deren Rispen so lang sind wie Hundeschwänze. Sie bringt einen hohen Ertrag, hat einen säuerlich bitteren Geschmack und verursacht Verstopfung. Kader oberhalb des Rangs eines Zweigsekretärs ausgenommen, haben die Gesichter aller Dorfbewohner die Farbe von rostigem Eisen.
Mein Gott, wie ich die Hybridhirse hasse !
Hybridhirse scheint nie reif zu werden. Ihre graugrünen Augen öffnen sich nie ganz. Ich stehe vor dem Grab meiner Zweiten Großmutter und sehe die hässlichen Eindringlinge an, die das Reich der roten Hirse okkupiert haben. Sie nennen sich Hirse, aber sie haben die großen geraden Stiele nicht. Sie nennen sich Hirse, aber ihnen fehlt die blendende Farbe der roten Zuckerhirse. Was ihnen fehlt, ist die Seele der Hirse, das Wesen der Hirse. Ihre dunklen, trübsinnigen, unentschlossenen, langen und schmalen Gesichter verschmutzen die Luft der Gemeinde Nordost-Gaomi.
Hybridhirse umgibt mich, und ich verspüre einen gewaltigen Verlust.
Ich stehe mitten in dem dichtbewachsenen Feld voll Hybridhirse und denke an Szenen unübertrefflicher Schönheit, die ich nie wieder sehen werde. Unter dem hohen klaren Herbsthimmel des achten Monats bedeckt Hirse wie ein glänzendes Meer von Blut die Erde. Wenn die herbstlichen Regenfälle reichlich sind, verwandelt sich das Feld in ein sumpfiges Meer, und die roten Spitzen der Hirse steigen aus dem trüben gelben Wasser auf und rufen tapfer den blauen Himmel über sich an. Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, leuchtet der Meeresspiegel, und Himmel und Erde sind von reichen majestätischen Farben bedeckt.
Das ist der Inbegriff des Menschseins und der Inbegriff der Schönheit, nach der ich mich sehne, nach der ich mich immer sehnen werde.
Von Hybridhirse umgeben, deren schlangenähnliche Blätter sich um meinen Körper winden, deren durchdringendes Grün meine Gedanken vergiftet, liege ich in Fesseln, aus denen ich mich nicht befreien kann. Ich ringe nach Luft und stöhne, und weil ich mich nicht von meinem Leiden befreien kann, versinke ich im Abgrund der Verzweiflung.
Dann ertönt aus dem tiefsten Herzen des Landes ein einsam verzweifelter Laut, der mir vertraut und zugleich fremd ist. Er klingt wie die Stimme meines Großvaters und zugleich wie die Stimme meines Vaters, wie Onkel Luohans Stimme und wie die volltönenden, singenden Stimmen meiner Großmutter, meiner Zweiten Großmutter, meiner Dritten Großmutter. Die Geister meiner Vorfahren senden mir eine Botschaft, sie weisen mir den Weg aus dem Labyrinth:
Du erbarmungswürdiges, schwaches, misstrauisches, störrisches, voreingenommenes Kind ! Deine Seele ist dem Zauber vergifteten Weins erlegen. Geh hinunter zum Schwarzwasserfluß und lass dich drei Tage und drei Nächte - nicht einen Tag weniger, nicht einen Tag mehr - in seinem Wasser treiben, um deinen Körper und deine Seele zu reinigen. Dann kannst du in die wirkliche Welt zurückkehren. Zwischen dem Yang am Berg des Weißen Pferdes und dem Yin am Schwarzwasserfluß wächst ein Stängel rote Hirse. Du musst alles opfern, um ihn zu finden. Wenn du ihn gefunden hast, trage ihn hoch vor dir her auf deinem Weg durch dichtes Dornengestrüpp und reißende Tiere. Er ist dein Talisman, das Totem unserer ruhmreichen Familie, das Symbol der Tradition, der Geist der Gemeinde Nordost-Gaomi!
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