Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Reeder vorbehalten, die als strenge Protestanten zumindest im Alltag grau-schwarz-weiße Einfachheit bevorzugten. Aber es fehlten natürlich nicht die feinen Kattuns, Spitzen, Seide und Samt, denn Ruhrort war reich geworden, seit man Fettkohle für die Eisenschmelzen tief aus der Erde holte und Stahlwerke und Eisengießereien direkt neben den Zechen baute. Hier war der Ausgangspunkt für die Verschiffung von Eisen, Kohle und auch hochwertiger Eisenwaren nach Holland und von dort in alle Welt. Und wie konnten die Damen den Reichtum, den ihre Männer erarbeiteten, besser repräsentieren als mit der Mode? Längst galt es auch hier in der protestantischen Provinz nicht mehr als unschicklich, auf den Herbstbällen und den Sonntagsvisiten die neuesten Pariser Modelle zu tragen, auch wenn ein Ruhrorter oder Duisburger Kleidermacher sie aus Dahlmanns Tuchen genäht hatte.
«Josef Dahlmann sel. Witwe» stand auf dem Schild am Ladeneingang. Das war schon seit mehr als zwanzig Jahren so, denn unter ihrem eigenen Namen durfte Clara Dahlmann nach dem frühen Tod ihres Mannes das Geschäft nicht führen. Sie hatte damals, im Jahr 1829, etliche Kaufangebote und Heiratsanträge abgewehrt, hatte den richtigen Instinkt gehabt und den Laden von der reinen Ausrichtung auf Arbeitskleidung zu einem feinen Tuchladen für Damen- und Herrenmode geführt.
Reichtümer hatte sie nicht ansammeln können, die wirklich wohlhabenden Familien kauften auch in Crefeld, Düsseldorf oder Cöln, manche gar in London und Paris. Aber den immer wieder drohenden Bankrott, der ihrem Mann den Magen ruiniert und ihn schließlich zu Tode gebracht hatte, hatte sie schon lange abgewendet und es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Da die kurze Ehe kinderlos geblieben und das Haus, das Josefs Eltern einige Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg an der Harmoniestraße in der Neustadt gebaut hatten, groß genug war, konnte Clara noch dazu vermieten: im ersten Stock hatte der Lehrer Reichert zwei kleine Räume angemietet, in der Mansarde lebte seit kurzem der neue Polizeicommissar Borghoff. Beide Mieter brachten ihr noch ein paar zusätzliche Thaler im Jahr ein, die sie in schlechteren Zeiten besser schlafen ließen.
Bis zum frühen Nachmittag war es ungewöhnlich ruhig im Laden gewesen. Waren noch vor vier Wochen die Klagen über das ungewöhnliche Niedrigwasser groß gewesen, wodurch die Schifffahrt auf Ruhr und Rhein stark eingeschränkt war, so hatte in den letztenTagen ein Dauerregen dieTrockenheit abgelöst. Bei diesem Wetter ging nur der vor die Tür, der unbedingt musste.
Aber Clara Dahlmann machte sich keine Sorgen um ihr Geschäft. In wenigen Wochen war Hochsaison für Feines und Teures, denn die Zeit vor und nach Weihnachten war die Zeit der Bälle und Gesellschaften, und die reichen Damen brauchten neue Kleider.
An diesem trüben Novembertag hatten sich nur ein paar Schifferfrauen eingefunden, die grobes Leinen und Baumwolle für Kinderkleidung gekauft hatten. Eine hatte sich ein kleines Stück weißen Kattun geleistet, um Kragen davon zu nähen. Clara stand aufrecht hinter der Theke mit den Taschentüchern und Spitzen und schaute den wenigen vorbeieilenden Gestalten nach, dem Boten des Handelshauses Haniel, dem Schreiber der Borgemeisters, der zur Mittagszeit nach Hause zum Essen ging, dem Hausmädchen der Liebrechts, das wohl eine Besorgung hatte machen müssen. Und es gab auch wieder größere Gruppen von wallonischen Arbeitern, die auf der Baustelle des Phoenix-Hüttenwerkes arbeiten wollten. In diesen Tagen schallte einem auf den Straßen Ruhrorts häufiger Französisch als Ruhrorter Platt entgegen.
Von weitem näherten sich zwei Frauen dem Laden. Die eine von ihnen erkannte Clara auch aus dieser Entfernung sofort, denn sie hinkte unübersehbar – das war Carolina Kaufmeister, die jüngste Tochter einer angesehenen Händlerfamilie. «Fräulein Lina», wie alle sie nannten, war aufgrund ihres Gebrechens, einer steifen Hüfte, unverheiratet geblieben und lebte bei ihrem Vater und der Familie ihres Bruders in einem großen neuen Haus an der Carlstraße. Seit dem Tod ihrer Mutter führte sie dort den Haushalt und pflegte den kranken Vater.
Clara Dahlmann freute sich immer, wenn Lina in den Laden kam, denn das bedeutete meist ein gutes Geschäft. Die Kaufmeisters engagierten nie eine Hausschneiderin oder einen der örtlichen Meister, alle Näharbeiten übernahm Lina, die ein untrügliches Auge für Mode hatte, selbst. Es genügte ihr, ein Kleid
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