Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Hausdiener, er soll dich heimbringen.»
Angesichts des Nebels willigte Lina ein. Kurze Zeit später verabschiedete sie sich an der Haustür von Luise. Simon, der knapp sechzehnjährige Hausknecht, stand schon unten an der Treppe mit einer kleinen Handlaterne, die erschreckend wenig Licht gab. Er machte ein mürrisches Gesicht, denn sie hatten ihn aus einem Nickerchen geweckt, das er sich vor seinen zahlreichen abendlichen Pflichten gegönnt hatte.
Während Lina langsam die Treppe hinabstieg, fiel sein Blick auf ihren unförmigen Schuh. Er sah sofort in die andere Richtung.
«Gehen wir», sagte sie zu dem Jungen. «Du weißt, wo die Carlstraße ist?»
Er nickte, aber Lina war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte.
Sie gingen über den Platz, und Lina war erleichtert, als vor ihr plötzlich der Eingang einer Gasse auftauchte.
«Heho!», rief Simon und schwenkte die kleine Laterne. Die meisten von Ruhrorts Altstadtgassen waren so eng, dass keine zwei Personen aneinander vorbeikamen und einer umdrehen und dem anderen den Vortritt lassen musste. Lina hätte diese Gasse nie benutzt, aus Angst, sich das Kleid zu ruinieren, aber sie wollte Simon nicht noch mehr verärgern.
Simon ging vor, und Lina konnte ihm, behindert durch den weiten Rock, kaum folgen. «Warte doch, Simon», rief sie ihm hinterher. Dann sah sie das Licht und kurz darauf auch den Jungen, der sie ärgerlich ansah. «Ich kann nicht so schnell.»
Sein Blick fiel auf ihren Gehstock, und er nickte.
«Nicht deswegen, Simon», sagte Lina. «Sieh dir mein Kleid an! Die nächste Gasse sollte etwas breiter sein.»
Er brummte etwas, das sie nicht verstand, und sie folgte ihm. Er ließ tatsächlich eine der engen Gassen links liegen und brachte sie zu einer anderen. Lina selbst hatte die Orientierung für den Moment völlig verloren. Sie hoffte, dass sie Richtung Weidetor gingen, das kürzlich abgerissen worden war und der alten, längst lückenhaften Stadtmauer ein weiteres Loch beigebracht hatte.
Der Nebel wurde noch dichter und schien alles Leben in Ruhrort zu lähmen. Nur eine Kutsche war auf der sich nun verbreiternden Straße unterwegs. Sie beschleunigte und überholte Lina, die zur Seite treten musste. Die Geräusche entfernten sich rasch.
Lina musste sich sputen, um mit dem voranstürmenden Simon mitzuhalten, der schon nach wenigen Metern nicht mehr zu sehen war. Sie wusste, dass im Nebel Geräusche anders klangen, mal ferner, mal näher als vermutet. Doch sie war sich sicher, am Inselhafen angekommen zu sein. Leise klatschte das Wasser an die am Kai liegenden Schiffe. Lina blieb stehen und versuchte, etwas zu erkennen, aber sie sah nur ein paar Lichter von Schiffslaternen durch die Schwaden flackern. Da bei dem Nebel nicht gearbeitet werden konnte, war es ungewöhnlich still. Lina merkte, dass sie den Hafen nun hinter sich gelassen hatte, und das war der falsche Weg. Zu allem Unglück schien Simon unverdrossen weitergegangen zu sein, um sich der lästigen Pflicht schnell zu entledigen.
Lina hoffte, dass er seinen Irrtum irgendwann selbst bemerkte und umkehrte, denn die Ludwigstraße war die letzte Möglichkeit, ohne einen noch größeren Umweg zur Carlstraße zu gelangen. Aber war sie überhaupt noch auf der Hafenstraße, oder war dies schon die breite Meidericher Chaussee?
Auch wenn Lina trotz ihres Gebrechens recht schnell zu Fuß war, auf der unebenen, ungepflasterten Straße musste sie achtsam gehen, und einholen würde sie den Jungen nicht mehr. Die Ludwigstraße, in diesem Bereich wenig mehr als ein Feldweg, lag jetzt sicher schon hinter ihr, die andere Straßenseite war völlig vom Nebel verschluckt. Jetzt gab es nur noch Weiden und Ackerland und die große Chaussee. Sie hoffte, Simon war nicht in Richtung Meiderich abgebogen.
«Simon», rief sie, so laut sie konnte. «Simon. Warte!»
Endlich antwortete er, im Nebel hörte es sich so an, als hielte er sich einen Schal vor den Mund. «Fräulein Lina! Wo sind Sie denn?»
Das war ein ganzes Stück weiter vorn. Sie wollte weitergehen, als sie plötzlich Kutschgeräusche hörte. Die Kutsche raste mit großer Geschwindigkeit direkt auf sie zu und knapp an ihr vorbei. Lina hatte einen Satz zur Seite gemacht. Ihr Herz begann zu klopfen. Für einen Moment glaubte sie, auf der anderen Seite die Gärten oberhalb der Ludwigstraße zu sehen. Aber Simon konnte sie nicht entdecken.
«Fräulein Lina!» Das klang schon näher.
Langsam ging sie auf ihn zu, und schließlich sah sie das spärliche
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