Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ungewohnt verträumten Zug. «Wenn er … wenn er mal nicht mehr ist, dann kann ich mir vielleicht eine kleine Wohnung mieten. Er hat mir 5000 Thaler und eine lebenslange Rente zugesagt, zusätzlich zu der, die ich aus Mutters Nachlass bekomme. Ich war dabei, als er das Testament änderte. Reich wäre ich dann nicht, aber für ein Leben ohne Georg und seine bigotte Frau wäre es genug.»
«Lina, dein Bruder würde dich nie in die Mündigkeit entlassen. Es schickt sich nicht, wenn eine Frau ohne Not allein lebt. Ich bin Waise und ohne Geschwister. Aber du würdest dich selbst und deinen Bruder vor der ganzen Gesellschaft Ruhrorts unmöglich machen.»
«Ja, für ihn ist das eine bequeme Lösung. Nach außen hin ist er der großzügige Bruder, der seiner verkrüppelten Schwester ein Heim bietet, sie kleidet und ernährt. In Wirklichkeit spart er sich das Geld für eine Haushälterin und noch dazu das, was seine Frau durch ihre Unfähigkeit, einen Haushalt zu führen, verschleudern würde.»
«Ach, Lina, jetzt übertreibst du aber!»
Lina stand umständlich auf. «Nein, keineswegs. Aaltje gibt mir oft zu verstehen, wie dankbar ich sein muss.»
Obwohl Luise merkte, dass es Lina sehr ernst war, musste sie unwillkürlich lächeln. Linas Schwägerin war eine große, dicke Holländerin mit einem unfein geröteten Gesicht und den Zügen einer wohlgenährten Bäuerin. Sie überragte Lina um mehr als einen Kopf, aber wenn sie und Lina sich in einem Raum befanden, schien Aaltje zu schrumpfen. Und da Aaltje auch nur unbeholfen Deutsch sprach, zog sie gegen Lina immer den Kürzeren. «Sie hat Angst vor dir, Lina. Das hat sie seit dem Tag, als sie in euer Haus kam und du das Regiment nicht aus der Hand gegeben hast.»
Lina lachte. «Ich konnte ihr doch den Haushalt nicht überlassen. Sie mag wie eine fette Köchin aussehen, aber von Hausfrauenpflichten hatte dieses verwöhnte Kind nie etwas gehört. Es gibt nur zwei Pflichten, denen sie nachkommt: Beten und schwanger werden.» Sie machte mit der Hand die Geste eines gewölbten Bauches.
«Sei nicht so niederträchtig», sagte Luise scharf.
«Warum? Weil ich denke, dass mein lieber Bruder sich nach einer Geburt oder Fehlgeburt einmal eine Weile aus dem Bett seiner Frau fernhalten sollte, damit sie sich vielleicht so weit erholen kann, um endlich wieder ein kräftiges, gesundes Kind zur Welt zu bringen?»
Von Aaltjes bisherigen zehn Schwangerschaften hatten nur zwei Kinder, der zehnjährige Karl und die siebenjährige Elisabeth, überlebt. Es hatte nicht nur den Eltern, sondern auch Lina jedes Mal das Herz gebrochen, wenn ein oft nur wenige Tage altes Würmchen starb. Am schlimmsten war es, als der jüngere Sohn Josef im Alter von vier Jahren an Typhus starb. Damals hatten sie geglaubt, er wäre aus dem Gröbsten heraus, doch es war nie vorauszusehen, ob ein Kind überlebte und heranwuchs. Georg stürzte sich danach in seine Arbeit, und Aaltje trauerte. Mit noch mehr Gebeten als gewöhnlich und dem guten Kuchen der Köchin Helene – und versuchte, möglichst schnell wieder schwanger zu werden.
«Uns beiden alten Jungfern ist es nicht erlaubt, darüber zu urteilen.» Luise war ebenfalls aufgestanden und ging zum Fenster. Lina wusste, dass es nicht der Lebenstraum ihrer Freundin gewesen war, als unverheiratete Lehrerin zu enden, doch als nur spärlich vermögende Waise hätte sie unter Stand heiraten müssen.
«O nein», rief Luise plötzlich.
«Was ist denn?», fragte Lina und trat ebenfalls zum Fenster. An diesem trüben Tag war es ohnehin so düster gewesen, dass sie eine Kerze angezündet hatten, und nun war es schneller dunkel geworden als erwartet. Lina hasste den Winter, der ihre freien Nachmittage noch kürzer werden ließ. Der Regen hatte aufgehört, doch draußen hatte sich dichter Nebel über die Altstadt gelegt. Noch vor neun Jahren hatte auf diesem Platz die Altstadtkirche gestanden, aber man hatte sie abgerissen, nachdem in der Neustadt die Jakobuskirche gebaut worden war. Nun gab es hier einen Marktplatz, der von wenigen Laternen und dem Licht aus zwei Schenken spärlich beleuchtet wurde. Der Nebel war so dicht, dass man die Häuser auf der anderen Seite des kleinen Platzes nicht sehen konnte.
«Ich muss sofort nach Hause», sagte Lina und nahm ihren Mantel.
«Lina, du kannst nicht allein im Dunkeln durch die Altstadt gehen. Was, wenn du überfallen wirst oder …»
«Oder Schlimmeres?»
«Es schickt sich einfach nicht», entschied Luise. «Ich rufe den
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