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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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hämmerten. Mir wurde nur erzählt, daß er loslief und durch den Schnee rannte, so schnell er konnte. Er schien eine Ewigkeit zu laufen. Dann spürte er plötzlich einen Schmerz im Bein. Eine Sekunde danach fuhr eine überwältigende Wärme durch seinen Körper, und noch eine Sekunde später verlor er das Bewußtsein.
    Als er aufwachte, lag er auf dem Rücken in einem Bauernkarren. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, keine Ahnung, wie er gerettet worden war. Er hatte nur die Augen aufgeschlagen – und da lag er auf einem Karren, den irgendein Pferd oder Maultier eine Landstraße entlangzog, und starrte einem Bauern auf den Hinterkopf. Als er diesen Hinterkopf einige Sekunden lang betrachtet hatte, brachen plötzlich laute Detonationen aus den Wäldern. Zu schwach, sich zu bewegen, sah er nur immer weiter diesen Hinterkopf an, und auf einmal war der weg. Er flog dem Bauern einfach vom Rumpf, und wo eben noch ein vollständiger Mann gesessen hatte, saß nun ein Mann ohne Kopf.
    Mehr Lärm, mehr Durcheinander. Ob das Pferd den Karren weiterzog oder nicht, kann ich nicht sagen, aber binnen weniger Minuten, vielleicht auch nur Sekunden, kam auf der Straße ein großes Kontingent russischer Soldaten anmarschiert. Jeeps, Panzer, Hunderte von Soldaten. Nachdem der befehlshabende Offizier einen kurzen Blick auf das Bein von S.s Onkel geworfen hatte, ließ er ihn sofort in ein Lazarett bringen, das irgendwo in der Nähe errichtet worden war. Es war nur eine baufällige Holzhütte – ein Hühnerstall vielleicht oder sonst ein Nebengebäude eines Bauernhofs. Dort erklärte der russische Arzt das Bein für verloren. Die Verletzung sei zu schwer, sagte er, er werde es abnehmen müssen.
    Der Onkel meines Freundes kreischte auf. «Nicht das Bein abnehmen!» schrie er. «Bitte, ich flehe Sie an, nicht das Bein abnehmen!» Aber niemand hörte auf ihn. Die Sanitäter schnallten ihn auf den Operationstisch, und der Arzt griff nach der Säge. Er hatte sie schon angesetzt, als wieder eine Detonation ertönte. Das Dach der Hütte brach ein, die Wände klappten zusammen, das Lazarett war zerstört. Und wieder einmal verlor S.s Onkel das Bewußtsein.
    Als er diesmal aufwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Die Laken waren weich und sauber, in dem Zimmer roch es angenehm, und sein Bein warnoch da, wo es hingehörte. Gleich darauf sah er einer schönen jungen Frau ins Gesicht. Sie hielt ihm lächelnd einen Löffel Brühe an den Mund. Ohne zu wissen, wie, war er aufs neue gerettet und zu einem anderen Bauernhof gebracht worden. Noch etliche Minuten, nachdem er zu sich gekommen war, vermochte er nicht zu sagen, ob er tot oder lebendig sei. Es schien ihm nicht ausgeschlossen, daß er im Himmel aufgewacht war.
    Er blieb bis zu seiner Genesung in dem Haus und verliebte sich in die junge Frau, doch ist aus der Geschichte letztlich nichts geworden. Ich wünschte, ich könnte sagen warum, aber S. hat mir die Einzelheiten nicht mitgeteilt. Ich weiß lediglich, daß sein Onkel das Bein behalten hat – und daß er nach dem Krieg nach Amerika gegangen ist, um ein neues Leben anzufangen. Irgendwie (die Umstände liegen für mich im dunkeln) ist er schließlich als Versicherungsvertreter in Chicago gelandet.

4
    L. und ich heirateten 1974. 1977 wurde unser Sohn geboren, aber ein Jahr später war unsere Ehe am Ende. Das alles ist jetzt nicht wichtig – es dient nur als Hintergrund für einen Vorfall, der sich im Frühjahr 1980 zutrug.
    Wir lebten damals beide in Brooklyn, nur drei, vier Blocks voneinander entfernt, und unser Sohn teilte seine Zeit zwischen den beiden Wohnungen auf. Eines Morgens mußte ich bei L. vorbei, um Daniel abzuholen und zum Kindergarten zu bringen. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ins Haus ging oder ob Daniel allein die Treppe herunterkam, aber ich sehe noch deutlich, wie L., gerade als wir zusammen weggehen wollten, das Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock aufmachte und mir Geld zuwarf. Warum sie das tat, ist ebenfalls vergessen. Vielleicht wollte sie, daß ich die Parkuhr für sie auffüllte, vielleicht sollte ich ihr irgend etwas besorgen, ich weiß es nicht mehr. Was bleibt, ist nur das offene Fenster und das Bild einer durch die Luft fliegenden Münze. Ich sehe das mit einer solchen Klarheit vor mir, fastals hätte ich Fotografien dieses Augenblicks studiert, als gehöre dies zu einem Traum, den ich seither regelmäßig geträumt habe.
    Aber die Münze traf auf den Zweig eines Baumes, ihre Flugbahn

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