Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
Weihnachten im Norden
Wie ein gerader Strich zog sich die Straße durch die Landschaft, und wenn es auch zu lustig klingen mag, so stimmt es doch, daß man schon von weitem sehen konnte, wer die Strecke entlangfuhr.
Die Eintönigkeit dieses Flachlandes wurde nur durch Ossips Kotten unterbrochen, welcher nicht unbedingt eine Verschönerung darstellte. Er stand am Rande der Straße — alt und brüchig. Beruhigend schien eigentlich nur der Rauch zu sein, der aus seinem Schornstein stieg und irgendwo im Nichts verschwand.
Ossip trat aus der Tür, um ein paar Scheite Holz reinzuholen. Von ferne trug der Wind das Blöken der Schafe zu ihm. , überlegte er und kontrollierte noch einmal den Stall, die Ruheplätze für die Tiere. Sehr dürftig mutete das Ganze an, und sorgenvoll stopfte Ossip einen Jutesack in eine der Ritzen, durch die eisige Kälte drang. Gleich am Kopfende des Stalles befand sich eine kleine Tür, und Ossip mußte sich bücken, um in seine Stube zu treten. Der alte gußeiserne Herd glühte, in dem nun schon seit zwei Stunden ein großer Laib Brot buk, und es würde noch eine weitere dauern, bis Ossip ihn herausnehmen konnte.
Fern der Zivilisation benötigte so ein Vorhaben die dreifache Zeit. Aber schon Vorjahren hatte Ossip sich für dieses Leben entschieden und es bisher auch nicht bereut. Er holte den Topf mit Schmalz, welches er gestern frisch ausgelassen und mit Zwiebeln und Apfelstücken angereichert hatte, aus seiner Vorratskammer und stellte ihn auf den Tisch. Liebevoll strichen seine Hände über eine Flasche Rotwein aus dem Ahrtal. «Fröhliche Weihnachten, du Rebensaft aus meiner Heimat!» schmunzelte er.
Ossips Gedanken wurden durch ein Motorengeräusch, welches ganz abrupt aufhörte, unterbrochen. Er nahm das Fernglas und ging hinaus.
Schemenhaft konnte er in der Dämmerung eine Person vor einem Auto stehend erkennen. Ossip dachte nicht lange nach, nahm sein Fahrrad und fuhr los. Schon bald stellte er fest, daß es sich um einen Mann handelte, der nichts tat, als auf irgendeinen Punkt zu starren. «Was ist mit Ihnen?» fragte Ossip. «Mir ist nicht sonderlich gut», antwortete der Befragte und drehte ihm sein bärtiges Gesicht zu. Viel gab es darin nicht zu lesen, nur, daß dieser Tag eine große Last zu sein schien und daß die Augen müde und trüb blickten. «Ist Ihr Kofferraum leer?» Ossip drückte auf den Knopf und der Deckel sprang hoch. «Ja.» Er verstaute sein Fahrrad so gut es ging, schob den Mann zur Beifahrertür und ließ sich den Zündschlüssel geben. In wenigen Minuten kamen sie am Kotten an, und Ossip bat den Fremden — ihm die eckige, schwarze Tasche abnehmend — , in seiner Stube ein wenig auszuruhen. Als er die Tasche des Mannes auf seine Wäschetruhe stellte, sprang ihr Verschluß auf. Etwas Schwarzes glitt hinaus und eine Bibel, die er gerade noch auffangen konnte. «Sie sind Pfarrer?» fragte Ossip erstaunt und hob den Talar vom Boden auf. Viel verstand er von diesem Beruf nicht, aber doch so viel, daß der heutige Tag, der Heilige Abend, immer ein Fest der Freude und Hoffnung war. Um so mehr bedrückte ihn der Kummer dieses jungen Pfarrers. «Woher kommst du?» fragte er ihn behutsam. «Woher ich komme!» wie ein Aufschrei klang seine Stimme. «Aus leeren Kirchen, aus einem Kapellchen mit zwei Zuhörern. Sie wollen mich hier nicht haben. Ich bin keiner von ihnen. Lieber fahren sie in die weit abgelegenen Dörfer zum Gottesdienst. Dieses flache Land gibt nichts preis für einen wie mich!» Das Gespräch fand durch das Herannahen der Schafe ein jähes Ende. «Friedo ist gekommen», erklärte Ossip. «Er kommt jedes Jahr um diese Zeit. Sag mir, wie du heißt, und sei mein Gast heute abend.» «Lennart», sagte der Fremde, der nun keiner mehr war, und gab Ossip die Hand.
Laut vernehmlich polterte Friedo herein, und wie in all den vergangenen Jahren stieß er sich auch dieses Mal absichtlich seine Stirn am Türbalken an, schimpfte kräftig darüber und verbarg auf diese Art seine Rührung über das Wiedersehen mit Ossip.
Gemeinsam versorgten sie dann die Schafe, während Jesko, der Hund, schon seinen Stammplatz am warmen Herd einnahm. Als alle Arbeit getan war, setzte sich Friedo zum Pfarrer und zog genüßlich an seiner Pfeife. «Wie geht’s denn, Herr Kollege?» fragte er Lennart, der ihn bedrückt anblickte: «Wieso Kollege?» Der Pfarrer zog die Brauen hoch. «Na, wir sind doch beide Hirten,
Weitere Kostenlose Bücher