Das rote Notizbuch
das gehört Ihnen», sagte R.
«Es
hat
mir gehört», sagte die Frau, «aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierhergekommen, um es Ihnen zu schenken.»
7
Vor zwölf Jahren ging die Schwester meiner Frau nach Taiwan. Sie wollte dort Chinesisch studieren (was sie heute mit atemberaubender Gewandtheit beherrscht) und sich den Lebensunterhalt mit Englischunterricht für die in Taipeh lebenden Chinesen verdienen. Das war etwa ein Jahr bevor ich meine Frau kennenlernte, die damals an der Columbia University ein Graduiertenstudium absolvierte.
Eines Tages unterhielt sich meine künftige Schwägerin mit einer amerikanischen Bekannten, einer jungen Frau, die ebenfalls nach Taipeh gegangen war, um Chinesisch zu studieren. Als sie auf ihre Familien daheim zu sprechen kamen, ergab sich folgender Dialog:
«Ich habe eine Schwester in New York», sagte meine künftige Schwägerin.
«Ich auch», antwortete ihre Bekannte.
«Meine Schwester lebt auf der Upper West Side.»
«Meine auch.»
«Meine Schwester wohnt in der West 109th Street.»
«Ob Sie’s glauben oder nicht: meine auch.»
«Meine Schwester wohnt im Haus Nummer 309 an der West 109th Street.»
«Meine auch!»
«Meine Schwester wohnt im ersten Stock des Hauses Nummer 309 an der West 109th Street.»
Die Bekannte holte tief Luft und sagte: «Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber meine auch.»
Die beiden Städte Taipeh und New York liegen denkbar weit auseinander. Sie befinden sich an entgegengesetzten Enden der Erde, sind über fünfzehntausend Kilometer voneinander entfernt, und wenn in der einen Tag ist, ist in der anderen Nacht. Die beiden jungen Frauen in Taipeh staunten noch über die soeben entdeckte unglaubliche Verbindung, als ihnen aufging, daß ihre beiden Schwestern in diesem Augenblick wahrscheinlich schliefen. Auf derselben Etage desselben Gebäudes im Norden Manhattans schliefen sie jede in ihrer Wohnung, ohne etwas von dem Gespräch zu ahnen, das auf der anderen Seite des Globus über sie geführt wurde.
Wie sich herausstellte, kannten die beiden in New York einander nicht, obwohl sie Nachbarinnen waren. Als sie sich schließlich (zwei Jahre später) kennenlernten, wohnten sie beide nicht mehr in diesem Haus.
Siri und ich hatten inzwischen geheiratet. EinesAbends traten wir auf dem Weg zu irgendeiner Verabredung am Broadway in eine Buchhandlung und sahen uns ein wenig um. Dabei müssen wir in verschiedene Gänge geraten sein, denn weil Siri mir etwas zeigen wollte, oder weil ich ihr etwas zeigen wollte (ich kann mich nicht erinnern), rief einer von uns den anderen beim Namen. Eine Sekunde später stürzte eine Frau auf uns zu. «Sie sind Paul Auster und Siri Hustvedt, stimmt’s?» sagte sie. – «Ja», sagten wir, «stimmt genau. Woher wissen Sie das?» Darauf erklärte die Frau, daß ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taiwan studiert hätten.
Endlich hatte sich der Kreis geschlossen. Seit jenem Abend vor zehn Jahren in der Buchhandlung ist diese Frau eine unserer besten und treuesten Freundinnen.
8
Im Sommer vor drei Jahren bekam ich eines Tages einen Brief. Er steckte in einem länglichen weißen Umschlag, adressiert an jemanden, dessen Name mir unbekannt war: Robert M. Morgan in Seattle, Washington. Auf der Vorderseite befanden sich verschiedene Stempel von der Post:
Nicht zustellbar. Adressat unbekannt. Zurück an Absender.
Mr. Morgans Name war mit Tinte durchgestrichen, und daneben hatte jemand geschrieben:
Nicht unter dieser Anschrift.
Ein Pfeil in derselben blauen Tinte wies in die linke obere Ecke des Umschlags, mit dem Vermerk:
Zurück an Absender.
In der Annahme, die Post habe sich geirrt, sah ich links oben nach und entdeckte dort zu meiner absoluten Verblüffung meinen eigenen Namen samt meiner Adresse. Und nicht nur das: Diese Angaben standen auch noch gedruckt auf einem Adressenaufkleber (von der Art, für die in Anzeigen auf Streichholzschachteln geworben wird und die man sich in Blocks zu zweihundert Stück bestellen kann). Der Name war korrekt geschrieben, ebenso die Adresse – und doch war es(und ist es noch immer) eine Tatsache, daß ich niemals in meinem Leben solche gedruckten Adressenaufkleber besessen oder bestellt habe.
In dem Umschlag befand sich ein mit einzeiligem Abstand getipptes Schreiben, das folgendermaßen begann: «Lieber Robert, zu Ihrem Brief vom 15. Juli 1989 kann ich nur sagen, daß ich, wie andere Autoren auch, häufig Post zu meinen Büchern erhalte.» Dann
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