Das rote Zimmer
sprechen. »Glauben Sie bloß nicht, dass Ihnen das irgendwas bringt, Mickey. Wir wissen über Sie Bescheid.«
Ich warf einen Blick zu Doll hinüber. Sein Mund stand offen wie bei einem Frosch oder Fisch. Ich wandte mich zum Gehen. Ab diesem Zeitpunkt bekam ich die Dinge nur noch bruchstückhaft mit. Ein klirrendes Geräusch. Ein Schrei. Ein Stoß von der Seite. Ein reißendes Gefühl an der einen Hälfte meines Gesichts, von oben nach unten.
Ich konnte es fast hören. Rasch gefolgt von einem warmen Schwall auf meinem Gesicht und meinem Hals. Der Boden, der mir entgegenkam. Linoleum, das hart gegen meinen Körper schlug. Ein Gewicht auf mir. Schreie.
Andere Menschen um mich herum. Ich versuchte, mich hochzustemmen, glitt aber aus. Meine Hand war nass. Ich starrte sie an. Blut. Überall Blut. Alles war rot.
Unglaubliche Mengen von Blut überall. Ich wurden über den Boden gezerrt, hochgehoben.
Es war ein Unfall. Ich war der Unfall.
1. KAPITEL
»Und ich hab gesagt: ›Ja, ja, ich glaube an Gott, aber Gott kann auch der Wind in den Bäumen und der Blitz am Himmel sein.‹«
Er beugte sich vor und deutete mit seiner Gabel auf mich. Der Mann, mit dem ich am Ende des Abends nicht nach Hause gehen, dessen Telefonnummer ich verlieren würde. »Gott kann das eigene Gewissen sein. Oder ein anderer Name für die Liebe. Oder der Urknall. ›Ja‹, hab ich gesagt, ›ich bin der Überzeugung, dass sogar der Urknall eine Bezeichnung für den Glauben eines Menschen sein kann.‹ Darf ich Ihnen nachschenken?«
Das war der Stand der Dinge, den wir an diesem Abend erreicht hatten. Sechs Flaschen Wein für acht Leute, und das, obwohl wir erst beim Hauptgang angelangt waren.
Labberiger Fisch mit Erbsen. Poppy ist eine der schlechtesten Köchinnen, die ich kenne. Sie produziert riesige Mengen, die wie misslungene Babynahrung schmecken. Ich warf einen Blick zu ihr hinüber. Sie war gerade in irgendeine Diskussion mit Cathy verwickelt, fuchtelte dabei übertrieben dramatisch mit den Armen herum und saß so weit nach vorn gebeugt, dass ihr ein Ärmel in den Teller hing. Trotz ihrer herrischen Art war sie im Grunde ein ängstlicher und unsicherer, vielleicht sogar unglücklicher Mensch, aber stets großzügig – sie gab diese kleine Party anlässlich meiner Genesung und bevorstehenden Rückkehr in die Arbeit. Offenbar spürte sie meinen Blick, denn sie schaute zu mir herüber und lächelte mich an. Plötzlich sah sie wieder so jung aus wie die Studentin, die ich zehn Jahre zuvor kennen gelernt hatte.
Kerzenlicht schmeichelt jedem. Die Gesichter rund um den Tisch schienen auf geheimnisvolle Weise zu strahlen.
Ich betrachtete Seb, Poppys Ehemann. Er war Arzt, genauer gesagt Psychiater. Unsere Reviere grenzten aneinander, zumindest hatte er das irgendwann mal so ausgedrückt. Ich hatte mich nie als Besitzerin eines Reviers gesehen, aber Seb wirkte manchmal wirklich wie ein Hund, der in seinem Garten patrouillierte und jeden anbellte, der sich zu nahe heranwagte. Seine scharfen Züge wurden durch das freundliche, flackernde Licht etwas gemildert. Cathy wirkte nicht mehr dunkel und schwer, sondern golden und weich. Ihr Mann saß am anderen Tischende in geheimnisvolles Dämmerlicht gehüllt, während der Mann zu meiner Linken nur aus Licht- und Schattenflächen zu bestehen schien.
»Ich hab zu ihr gesagt: ›Wir haben alle das Bedürfnis, an irgendetwas zu glauben. Gott kann auch für unsere Träume stehen. Wir alle brauchen Träume.‹«
»Das stimmt.« Ich schob mir eine Gabel voll Kabeljau in den Mund.
»Liebe. ›Was ist das Leben ohne Liebe?‹, hab ich gesagt.
Ich hab gesagt« – er sprach jetzt lauter, an den ganzen Tisch gewandt – »›Was ist das Leben ohne Liebe?‹«
»Auf die Liebe«, meinte Olive und hob lachend ihr leeres Glas. Ihr Lachen klang wie das Geläut einer gesprungenen Glocke. Sie war eine große, dunkle, an einen Raubvogel erinnernde Frau, deren blauschwarzes Haar sich auf ihrem Kopf dramatisch türmte. Auf mich wirkt sie seit jeher eher wie ein Model, nicht wie eine Geriatrieschwester. Sie lehnte sich vor und platzierte einen schmatzenden Kuss auf den Mund ihres neuen Freundes, der zurückgelehnt neben ihr saß und einen leicht benommenen Eindruck machte.
»Gibt es jemanden in Ihrem Leben?«, murmelte mein Nachbar. Er war wirklich ziemlich beschwipst.
»Jemanden, den Sie lieben?«
Blinzelnd versuchte ich mich zu erinnern. An eine andere Party, ein anderes Leben, bevor ich fast gestorben und als
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