Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
leise, dann legte er den fast geleerten Vorratssack an die Lippen. Das eisige Wasser schmeckte außergewöhnlich gut.
Der Dampf und die letzten Rauchschwaden stiegen immer höher. Von mehreren Seiten schimmerte ein ungewöhnliches, diffuses Licht durch die aufsteigenden Wolken. Eine der Lichtquellen mußte sich schräg unterhalb des Dorfes befinden. Sie war blaugrün und bildete einen unregelmäßig flackernden Streifen. Die zweite Lichtquelle war hell und weiß. Sie strahlte immer wieder kurz auf durch die abziehenden Wolken.
Goetz drehte sich zur Seite. Oben an den Zisternen vermutete er die dritte Lichtquelle. Während er unschlüssig zwischen der Brücke und der einzeln stehenden Linde auf der schrägen Dorfwiese hin und her ging, stieß er gegen ein paar Steintrümmer. Er bückte sich und hob einen der Steine auf.
Im gleichen Augenblick gaben die Wolken das Dach der Kathedrale frei. Schräg über sich sah Goetz Hunderte von winzigen, funkelnden Lichtpunkten. Im ersten Augenblick glaubte er, Sterne zu sehen, doch dann merkte er, daß die Lichter nichts mit den bekannten Sternbildern zu tun hatten.
Die Wolken zogen weiter ab. Fasziniert beobachtete Goetz, wie sich die kleine Welt unter dem Dach der Kathedrale in ein Mysterium verwandelte.
Ein breites Band beinahe regelmäßiger Flammen spiegelte sich im schwarzen Glanz des Sees. Über ihm begann wie in einem Planetarium ein geheimnisvoller Reigen der Sterne. Und ganz weit oben glühte die Teufelsmauer in einem eigenartigen Blau, das eher eine Ahnung als eine sichtbare Strahlung war.
Über dem Dorf bildete sich ein Dom aus klarer, frischer Luft. Goetz stand wie verzaubert mitten im Sakriversum. Er hörte nicht den geringsten Laut, aber er roch wieder den Duft von Blumen, Kräutern, Erde. Seit seinen Kinderjahren hatte er nichts mehr so intensiv und glücklich empfunden wie den Frieden dieser Nacht.
Er sah nach oben. Die Lichtpunkte formten immer neue Figuren und Symbole. Sie sammelten sich an drei verschiedenen Punkten.
Und plötzlich erkannte er das Dreieck.
Jetzt wußte er, daß er nicht allein war ...
*
Im Buch-Heim dankten die Schander ihrem Schöpfer mit einem inbrünstigen Gesang. Fast alle hatten sich im großen Raum versammelt, der einmal die Küche ihrer Stammeltern gewesen war.
Sie saßen auf dem Boden, auf den Bohlentischen und selbst auf den Leitertreppen, die zu den verschiedenen Ebenen führten.
Sogar Hector, die Artisten und die Frauen der Bankerts versuchten mitzusingen. Dietleibs Sohn Reinmar flüsterte einem Bankert -Mädchen die richtigen Worte zu. Seine Schwester Marga war trotz Enge, Hitze und Lärm in Mathildas Armen eingeschlafen. Nur ihre Lippen schienen mitzusingen.
Kurz zuvor waren Guntram und Agnes aufgetaucht. Sie hatten freudige Begrüßungen über sich ergehen lassen und viele Hände geschüttelt. Die Männer schlugen Guntram immer wieder auf die Schulter, während die Frauen Agnes umarmten und küßten.
Niemand hatte irgend etwas von den vielen Fragen und Antworten im Lärm verstanden, deswegen waren Guntram und Agnes so bald es ging weiter nach oben gestiegen. Als sie die obere Etage mit dem Raum des Großen Buchs erreichten, hatte unter ihnen der Gesang begonnen.
Die Clan-Chefs standen vor den Hebeln und Seilzügen an den Wänden. Sie hatten ihre Mäntel abgelegt. Einige trugen nur noch Hosen und ihre hohen, breitkrempigen Topfhüte. Es war sehr warm im oberen Raum.
Guntram sah sofort, daß sich etwas verändert hatte. Die Leichname von Meister Albrecht und Meister Wolfram waren nicht mehr da. Dafür stand Bieterolf auf einem Schemel und las einen Satz nach dem anderen aus dem Großen Buch vor. Es mußte ihn sehr anstrengen, denn über sein Gesicht liefen glänzende Schweißbäche.
Gebannt verfolgten Guntram und Agnes die geheimnisvolle Arbeit der Familienältesten. Keiner von ihnen schien sie zu bemerken. Es dauerte lange, bis Meister Bieterolf beide Hände auf die Seiten des Großen Buches legte und den Kopf senkte. Sein Gesicht leuchtete im Widerschein der verborgenen Lichtquellen.
»Sie kommen nicht zurück«, sagte Bieterolf. Er drehte sich nicht um. »Wir haben alles versucht, aber sie waren schon gestorben, ehe sie ins Sakriversum kamen.«
»Dann werden sie in den Irrgängen der Teufelsmauer verhungern!« sagte Meister Herbort erschöpft.
»Nein!« sagte in diesem Augenblick Galus und trat aus dem Schatten. »Ich habe euch die ganze Zeit beobachtet. Es stimmt, niemand kann euch den Vorwurf machen, daß
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