Das Schicksal der Zwerge
Königreich Urgon, Passenstadt, Nordosten, 31 Meilen vor dem Eingang ins Reich der Vierten im Braunen Gebirge, 6492. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Rodario setzte soeben an, Mallenia eine Standpauke zu halten, weil sie aufgestanden war, doch dann schwieg er, ließ sich leise auf der Bettkante nieder und betrachtete sie. Sie stand in ihrem Nachthemd am Fenster und blickte hinaus, über die hohen Hügel von Urgon und dorthin, wo einst das Reich der Trolle in Borwöl gewesen war. Das Licht machte den Stoff durchsichtig und zeigte ihm ihre verführerischen Umrisse, die trotz ihrer Muskeln die weibliche Form nicht verloren hatten. Und doch fühlte sich Mallenia in seinen Armen ganz anders als Coira an. Rodario wurde sich einmal mehr bewusst, dass er unglaubliches Glück hatte.
»Ich staune«, sagte die Ido und drehte sich halb zu ihm um.
»So? Über was?«
»Wie du es überlebt hast. Du kannst nicht schleichen, Rodario.«
»Ich kann schon, aber ich wollte es gar nicht«, erklärte er lächelnd, »um dich nicht zu erschrecken.« Dann bemühte er sich, vorwurfsvoll zu schauen. »Du solltest liegen bleiben. Die Reise hat dich angestrengt.«
»Soll sie doch. Ich möchte den Ausgang der Schlacht nicht verpassen. Das ganze Geborgene Land spricht von nichts anderem mehr.« Sie beugte sich nach vorn und blickte in die Gasse unter dem Fenster ihrer Herberge. »Da sind wieder welche, die sich freiwillig aufmachen, um die Kämpfer zu unterstützen.«
Rodario erhob sich und stellte sich hinter sie, schlang die Arme um sie und hielt sie fest. »Die Menschen sind von ihren Erfolgen und ihrer Freiheit wie berauscht! Das ist gut. Aber noch besser ist, dass sie hoffentlich zu spät kommen.« Er folgte ihren Blicken und sah eine Schar junger Männer in Rüstungen von dannen ziehen, die eine Fahne trugen, auf der das Wappen der Stadt flatterte. »Gegen die Scheusale würden sie verlieren.« Mallenia drehte sich in seinen Armen. »Sind wir deswegen so langsam? Weil du mich schützen willst?« Sie bannte seine braunen Augen mit den eigenen. »Sag die Wahrheit, Schauspieler!«
»Wir sind so langsam, weil die Kutsche nicht schneller ist«, beteuerte er. »Ich möchte doch auch nach Coira sehen und sie nicht länger allein lassen.«
Mallenia nickte. »Ja. Das habe ich gleich gesagt. Sie benötigt deinen Schutz mehr als ich.«
»Als sie uns mit Tungdil und den anderen verließ, verhielt es sich anders. Du warst zu schwach, um ein Messer hochheben zu können«, widersprach er.
»Das«, erwiderte sie grinsend, »hat sich geändert.« Sie versetzte ihm einen spielerischen Stoß, der ihn dennoch zu einem Ausfallschritt zwang.
»Ich merke es«, sagte er und lachte. Er gab ihr einen Kuss auf die Hand. »Dann können wir aufbrechen.« Er suchte ihre Sachen zusammen, während sie sich ohne Scheu vor ihm umzog und Nachthemd gegen Rüstung und Schwerter tauschte. Sie tat sich dabei immer noch etwas schwer und benötigte länger als üblich, um alle Schnallen zu schließen, doch es gelang ihr.
Die Seesäcke waren fertig gepackt, und Rodario rief den Burschen des Wirts zu sich, damit er ihnen beim Tragen half.
Mit vereinten Kräften beluden sie die Kutsche, welche er samt Kutscher und Pferden gemietet hatte, danach stockten sie ihre Vorräte auf und vergaßen dabei auch nicht eine kleine Ration Hafer für die Tiere.
Rodario wollte Mallenia beim Einsteigen helfen, da stand der Wirt neben ihnen. Seinen Laufburschen hielt er grob am rechten Ohr gepackt. »Wartet, Herrschaften!«, rief er erbost. »Dieser Nichtsnutz muss Euch etwas gestehen.«
»Muss ich wirklich?«, jammerte der Junge.
Schon gab es eine harte Ohrfeige, die linke Wange glühte. »Dir sollte man die rechte Hand abschlagen! Und das wird man auch tun, wenn die Herrschaften auf einer Bestrafung bestehen!«, schrie er ihn an. »Du machst meiner Herberge Schande! Und das wirst du mit Schmerzen bezahlen!«
Rodario hatte längst an sich herumgetastet und suchte, ob ihm etwas gestohlen worden war. Es fehlte nichts, und Mallenia schüttelte ebenso den Kopf. »Guter Mann, was habt Ihr denn bei ihm gefunden?«
Der Wirt ließ das Ohr des Laufburschen los und versetzte ihm einen Schlag in den Nacken, dass die Haare flogen. Mit der anderen Hand langte er in seine Lederschürze und reichte dem verwunderten Rodario einen in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand. Das Tuch erkannte der Mime sofort als sein Eigentum, schließlich waren seine Initialen eingestickt. Aber er konnte sich nicht erinnern, etwas darin
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