Die Zeitdetektive 01 Verschworung in der Totenstadt
Die geheimnisvolle Tür
Mit heftigen Böen jagte der Herbstwind abgefallene Blätter über das Kopfsteinpflaster. Unablässig prasselte der Regen auf die drei Kinder herab, die geduckt durch die Straßen des malerischen Städtchens Siebenthann liefen, das inmitten einer wehrhaften Stadtmauer kauerte. Mittelalterliche Fachwerkhäuser lehnten sich dicht aneinander, als suchten sie Schutz. Aus den Fenstern der zahlreichen Häuser, Gaststätten und Hotels strahlte warmes Licht.
Die Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, erreichten eine Gasse, die steil bergauf führte. Sie kamen am Rathaus mit seinen zahlreichen Erkern und der Eisdiele Venezia vorbei, in der die Freunde oft nach der Schule saßen. Doch heute hatte das Trio keinen Blick für die Eisdiele. Der Regen trieb sie weiter den Hügel hinauf. An einem Brunnen bogen sie links ab. Da lag ihr Ziel: das Benediktinerkloster St. Bartholomäus aus dem Jahr 780.
Ein Blitz teilte die schwarzen Wolkenberge und erhellte für einen Sekundenbruchteil das düstere Gebäude, das einsam und abweisend vor den Freunden aufragte. Heutzutage lebte kein Mönch mehr in den geschichtsträchtigen Mauern. Das Kloster diente jetzt als Museum für mittelalterliche Geschichte und in einem Nebentrakt war eine Bibliothek untergebracht. Und genau dorthin rannten die Freunde.
„Beeil dich, Julian!“, rief der 12jährige Leon, als sie vor der Tür zur Bibliothek standen.
„Hetz mich nicht!“, gab der gleichaltrige Julian zurück. Er kramte mit klammen Fingern einen Schlüssel hervor und drehte ihn im Schloss. Die Tür schwang auf. Die Kinder schlüpften in das Gebäude.
Kim schüttelte die Regentropfen aus ihrer braunen Lockenmähne. „Super Wetter“, sagte sie und lachte.
Julian betrat die Bibliothek. Wie immer, wenn der schmächtige Junge mit der Stupsnase und den leicht abstehenden Ohren in diese Räume kam, beschlich ihn ein seltsames Gefühl: eine Mischung aus Aufregung und Ehrfurcht. Die uralte Bibliothek schien voller Geheimnisse. Sie erstreckte sich über drei Stockwerke und bestand aus zahlreichen Sälen, Kammern, weit verzweigten Gängen und knarrenden Treppen. Tausende von Büchern, fein säuberlich nach Sachgebieten und Autoren sortiert, standen in den langen Holzregalen.
Die Bibliothek hatte einen öffentlich zugänglichen Teil: die Stadtbücherei Siebenthann. Doch Julian, der Bücherwurm, fand den alten Teil der Bibliothek viel interessanter. Hier wurden besonders schöne und alte Stücke, gut geschützt in temperierten Vitrinen, ausgestellt; unschätzbar wertvolle Bücher mit Goldrändern, historische Landkarten und Schriftrollen in alten Sprachen. Seit Jahrhunderten schon wurden im Kloster Bücher gesammelt und archiviert.
Für Julian war diese Bibliothek der spannendste Ort, den er sich vorstellen konnte. Und seit dem Tod von Opa Reginald vor einem halben Jahr hatte er einen Schlüssel zu diesem Schatz. Julians Opa war der Bibliothekar des Klosters gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass nach seinem Tod sein geliebter Enkel Julian einen Schlüssel zum Reich der Bücher erhalten hatte. Opa Reginald hatte gewusst, dass Julian es sehr schätzen würde, wenn er jederzeit ungehinderten Zugang zur Bibliothek haben würde. Es war auch äußerst praktisch, denn hier fanden er und seine Freunde Material im Überfluss für Hausaufgaben und Referate in ihrem Lieblingsfach Geschichte.
Kim setzte sich auf einen wackligen Stuhl und schlug ihre langen Beine übereinander. Aus ihrem Lederrucksack zog sie einen Schnellhefter und einen Kugelschreiber und legte beides auf den Tisch.
„Kommt, Jungs, lasst uns anfangen“, meinte sie unternehmungslustig. Sie strich ein Blatt Papier glatt. „Übermorgen wollen wir doch Tebelmann mit unserem Ägypten-Referat beeindrucken!“
Tebelmann war ihr Geschichtslehrer, ein schüchterner Typ, der immer ein graues Cordsakko trug. Doch Tebelmann hatte die seltene Gabe, den Unterrichtsstoff sehr packend zu vermitteln.
„Schon dabei!“, erwiderte Julian, der vor einem Regal mit Geschichtswerken unter dem Sammelbegriff „Alte Geschichte/Ägypten“ stand und die Buchrücken studierte. Der Junge mit dem schmalen, klugen Gesicht wusste bereits eine ganze Menge über die alten Ägypter, aber die Pharaonin Hatschepsut war Neuland für ihn. Auch Leon, der einen halben Kopf größer als Julian war, suchte nach der richtigen Lektüre.
Julians Augen huschten an den Bücherreihen entlang. Plötzlich traf ihn ein kalter Windstoß. Julian sah zum Fenster.
Weitere Kostenlose Bücher