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Das Schlangenschwert

Das Schlangenschwert

Titel: Das Schlangenschwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe?«, rief er plötzlich leise. »Siebzig!«
    Die Tatsache, dass er nicht hundert und nicht tausend sagte, sondern gerade siebzig, erschütterte mich. Sogar meine Hände begannen zu zittern, und ich stellte die Tasse hin, um keinen Tee zu verschütten.
    »Und dann hatte ich eine Freundin«, berichtete Lion weiter, »aus der fünften Rotte... Wir heirateten während des Krieges. Ich kann jetzt sogar Kinder erziehen! Ich kann alles wie ein Erwachsener, absolut alles! Feuer löschen, Ertrinkende retten, einen Flyer fliegen! Ich habe bereits ein ganzes Leben gelebt und bin gestorben! Mir... mir ist langweilig, Tikkirej! Und ich habe vor nichts mehr Angst, vor gar nichts!«
    »Das wird vergehen«, flüsterte ich.
    »Was wird vergehen? Ich erinnere mich an alles, als ob es gestern wäre! Hast du eine Ahnung, wie der Himmel brennt, Tikkirej? Wenn eine Kette von Jagdbombern aus dem Orbit ihre Attacke beginnt und die Fliegerabwehr ein Plasmaschild über ihrer Position errichtet? Du weißt das nicht... Ein Sturm zieht auf, Tikkirej. Der Himmel ist orange, der Sturm heult und bläst direkt nach oben, sodass du dich am Boden festkrallen musst. Und die Luft wird immer trockener. Bei mir gingen die Kapseln im Atemgerät zu Ende und ich verbrannte mir damals den Rachen. Dafür gelang es den Angreifern nicht, sich zurückzuziehen, sie kamen an den Schild und lösten sich auf...
    Wie weiße Kometen im orange gefärbten Himmel... Danach kamen wir in ein Dorf, aber die Infanterie des Imperiums hatte es schon verlassen und alle Dorfbewohner getötet, weil sie uns unterstützt hatten... Die Männer waren erschossen worden... Frauen und Kinder in die Moschee getrieben, eingeschlossen und angezündet... Sie schrien noch, als wir einzogen, aber wir konnten das Feuer nicht mehr löschen...«
    »We-welche I-infanterie des Imperiums...«, stotterte ich. Lions Stimme war fürchterlich. Er dachte sich nichts aus, erzählte kein Buch oder keinen Film nach. Er erinnerte sich!
    »Die sechste Brigade der kosmischen Infanterie des Avalon, Abteilung – Camelot, Kommandierender – General Otto Hammer, Emblem – silberne Sichel, die auf einen brennenden Planeten fällt«, leierte Lion herunter. »Wir haben gegen das Imperium gekämpft, verstehst du das? Ich habe gegen das Imperium gekämpft!«
    »Das hast du gestern nicht gesagt...«
    »Ich werde es heute berichten«, Lion wandte seine Augen ab. »Ich... hatte Angst, dass sie mich dann sofort mitnehmen würden.«
    »Aber das war doch gar nicht die Wirklichkeit! Das war ein Traum!«
    »Für mich war das kein Traum, Tikkirej«, erwiderte Lion. Ich hatte auf einmal das Gefühl, mit einem erwachsenen Menschen, der bereits alles gesehen hat, zu sprechen und nicht mit einem Gleichaltrigen von einer Raumstation.
    Das dauerte jedoch nur einen Augenblick. Dann veränderte sich Lions Gesichtsausdruck, als ob er jemanden hinter meinem Rücken gesehen hätte. Und er senkte die Augen.
    Ich drehte mich um – in der Tür stand Stasj. Er schaute Lion schweigend an und dem Ausdruck auf seinem Gesicht konnte man nichts entnehmen.
    »Das wollte ich einfach gestern nicht erzählen...«, murmelte Lion.
    Stasj ging auf ihn zu und strich ihm über die Haare. Leise sagte er: »Das verstehe ich. Jemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden, mein Junge. Er wird die volle Verantwortung dafür tragen. Hab keine Angst, Lion.«
    »Nehmen Sie mich lieber gleich mit und machen Sie Ihre Untersuchungen«, brummelte Lion. »Ich halte das nicht aus. Die Erinnerungen werden immer stärker. Mein Kopf zerspringt... und nicht etwa vor Schmerzen. Ich werde irgendetwas anstellen, entweder mit mir selbst oder...«
    »Wir fahren bald«, meinte Stasj. Er dachte fieberhaft nach. »Weißt du... halt noch ein wenig durch. Wenigstens einen Tag.«
    »Und dann?«
    »Dann wird alles gut. Lion, Tikkirej, zieht euch an. Ihr frühstückt im Auto. Euch beiden steht ein schwerer Tag bevor.« Stasj’ Auto war einigermaßen akzeptabel. Er hatte weder einen coolen Allrad-Jeep noch einen sportlichen »Piranha«, sondern einen großen trägen »Dunaj«. So ein Auto fährt bei uns nur eine dicke und langsame Frau aus der technischen Abteilung.
    Aber Stasj schien es wirklich egal zu sein, mit welchem Auto er fuhr.
    Ich setzte mich mit Lion nach hinten. Wir schwiegen und versuchten ihn nicht auszufragen. Stasj sprach von allein, größtenteils über alle möglichen Nichtigkeiten. Über Experimente auf dem Gebiet

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