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Das Schlangenschwert

Das Schlangenschwert

Titel: Das Schlangenschwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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durchs Eis bricht. Verstehst du das? Das hatten wir bereits in der zweiten Klasse in den Überlebensstunden gelernt. Und als du eingebrochen warst, wusste ich genau, was zu tun war. Ich dachte sofort daran, dass man sich auf den Bauch legen und zu dir kriechen, dir ein Seil oder einen Gürtel zuwerfen oder einen Stock hinhalten müsse...«
    Er verstummte.
    »Rossi... Ist ja gut...«, beruhigte ich ihn. Als ich alles gerade überstanden hatte, glaubte ich, dass ich ihn hassen würde. Ihn und Rosi, und dass ich auf jeden Fall allen erzählen würde, was sie für Feiglinge und Verräter waren.
    Jetzt war ich mir dessen bewusst, dass ich es nicht machen würde.
    »Ich wusste doch alles«, wiederholte Rossi. Er hatte eine Stimme, als ob er eine ganze Ewigkeit nicht gesprochen hätte, und jetzt erst wieder damit anfing – und es nicht schaffte, die Worte richtig zusammenzufügen. »Tikkirej, versuch es zu begreifen... Ich wusste alles und konnte nichts machen. Ich lief am Ufer entlang und wünschte, dass alles so schnell wie möglich zu Ende ginge. Egal wie. Damit nichts zu tun wäre. Verstehst du das? Selbst wenn du ertrunken wärst! Ich bin ratlos, Tikkirej!«
    Er begann leise zu weinen.
    »Rossi...«, murmelte ich. »Was soll das. Du bist einfach durcheinandergekommen. Das kann jedem passieren.«
    »Das passiert nicht jedem!«, schrie Rossi auf. »Du hast Lion auf Neu-Kuweit nicht im Stich gelassen!«
    »Aber Lion ist doch mein Freund«, erwiderte ich.
    Und da wurde mir klar, dass ich Rossi eben unbeabsichtigt sehr wehgetan hatte.
    »Ich verstehe«, sagte er leise. »Ich wollte wirklich sehr, dass wir Freunde werden, Tikkirej. Ehrlich. Weil du so... besonders bist. Bei uns in der Schule gibt es niemanden... wie dich. Wir können doch jetzt keine Freunde mehr werden, Tikkirej?«
    Ich schwieg.
    »Es geht nicht«, wiederholte Rossi bitter. »Weil du dich immer daran erinnern wirst, dass ich dich verraten habe. Ich weiß nicht, warum...«
    Mir kam in den Sinn, dass diese ganze Misere für mich bereits beendet war. Sich sogar im Gegenteil in Freude verwandelt hatte – weil Lion normal wurde, weil Stasj gekommen war, weil man vielleicht mein Verhalten mit der Schlange verzeihen wird. Aber für Rossi stellte sich alles auf den Kopf. Für immer. Denn sie leben hier gut, und es passiert selten etwas, wobei man eine Heldentat vollbringen könnte. Na, vielleicht keine Heldentat... aber eine gute Tat. Vielleicht wäre die ganze Schule am Ufer hin und her gelaufen und hätte sich nicht entscheiden können, mir zu helfen! Jetzt aber werden alle davon überzeugt sein, dass sie mir auf alle Fälle geholfen hätten, ohne Angst zu haben. Rossi jedoch weiß genau – er hat wie ein Feigling und Verräter gehandelt. Seine Schwester kam wenigstens noch darauf, zu telefonieren und Hilfe zu holen...
    »Tikkirej«, sagte Rossi. »Ich habe heute zu Hause ziemlich etwas abgekriegt. Ich und Rosi... Glaub nicht, dass mein Vater so ein... Schluckspecht und Schwätzer ist. Er hat mich heute richtig zur Brust genommen. Nur... mir ist das alles eigentlich auch so klar. Ich brauche keine Erklärungen. Ich würde alles dafür geben, dass du noch einmal durch das Eis brichst und ich dich retten kann!«
    Ich dachte, dass ich durchaus nicht noch einmal einbrechen wollte. Sogar wenn man mich retten würde. Stattdessen sagte ich: »Rossi, wenn du erneut in so eine Situation kommst, wirst du alles richtig machen. Auf jeden Fall!«
    »Ja, nur für dich bin ich jetzt ein Feind«, äußerte Rossi bitter.
    »Nein!«
    »Aber auch kein Freund.«
    Darauf schwieg ich.
    »Wir werden die Schule wechseln«, flüsterte Rossi, »ich habe die Eltern selbst darum gebeten... Sie waren einverstanden.«
    »Rossi, das ist nicht nötig. Ich werde niemandem erzählen, was passiert ist!«
    »Ich brauche das«, bekräftigte Rossi.
    Und mir war klar, dass er Recht hatte. Trotzdem sagte ich: »Rossi, ich bin dir wirklich nicht böse. Und möchte gemeinsam mit euch lernen.«
    »Nein, Tikkirej. Das bringt nichts. Hauptsache, du verzeihst mir, ja? Und entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Gute Nacht!«
    Er beendete das Gespräch.
    Ich legte das Telefon auf den Boden neben das Sofa, kuschelte mich ins Kopfkissen und dachte daran, wie gut es jetzt wäre, ein wenig zu jammern und vielleicht sogar richtig loszuheulen.
    Wenn jetzt die Eltern in der Nähe wären, die mein Weinen hören könnten und kommen würden, hätte ich das auch gemacht.
    Aber ich hatte keine Eltern mehr. Schon

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