Das Schlitzohr
dicht gesäumt von Zuschauern, wenn ein Bataillon zum Bahnhof zog,
um zur Front zu fahren. Den Soldaten wurde zugejubelt und Liebesgaben und
Blumen zugeworfen. Später säumten die Zuschauer die Straßen, um die langen Züge
der Verwundeten zu sehen. Da waren die Gesichter ernster. Ganz ernst wurden
sie, als der Stellungskrieg begann und die Lebensmittel rationiert werden
mußten.
Auch im Hotel gab es einschneidende
Veränderungen. Der Chauffeur wurde samt dem Auto sofort eingezogen. Für den
jungen, schneidigen Vizehausmeister Eugen, der gleichfalls eingezogen wurde,
konnte man mit Mühe einen älteren Mann auftreiben, der das Gepäck der Reisenden
mit einem Handwagen beförderte. Der Oberkellner, der sich freiwillig gemeldet
hatte, wurde durch einen älteren Ober und später durch eine Kellnerin ersetzt.
Von dem weiblichen Personal mußten vier Bauerntöchter nach Hause, um anstelle
ihrer eingezogenen Brüder auf dem Bauernhof zu helfen. Eines unserer Zimmermädchen
ging in eine Munitionsfabrik, die mit hohen Löhnen und später mit
Sonderrationen überall die Arbeitskräfte abwarb. So war das Hotel innerhalb
weniger Wochen des größten Teils seiner besten Arbeitskräfte beraubt.
Es blieb meiner Mutter und Großmutter nichts
anderes übrig, als morgens die Gastzimmer zu richten und die Hotelküche zu
besorgen. Soweit wir Kinder nicht in der Schule waren, mußten wir helfen. Meine
Aufgabe war es, die Wasserkrüge und Wasserflaschen zu füllen und die
Toiletteneimer zu leeren. Da Mutter und Großmutter nicht mehr aus der
Arbeitskleidung herauskamen, wurde ein Stübchen neben der Küche ausgebaut, wo
wir unsere Mahlzeiten einnahmen. Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens meine
Mutter in Tränen aufgelöst antraf, als sie den Speisesaal auskehrte, weil um
sechs Uhr morgens die letzten zwei Dienstmädchen das Haus verlassen hatten.
Auch in der Schule machte sich der
Krieg bemerkbar. Unser Schulhaus — ich besuchte damals die dritte Klasse der
evangelischen Volksschule — wurde als Lazarett beschlagnahmt, und wir wurden in
einem Schlafsaal des Waisenhauses unterrichtet. Da wir mit 40 Schülern eine
sehr starke Klasse waren, saßen wir in dem kleinen Raum wie die Heringe
aufeinander. Aber gerade das gefiel uns, denn man blieb viel besser unentdeckt,
wenn man Unfug trieb. Ich hatte mich zu einem ziemlichen Raufbold entwickelt.
Das sehr zum Schmerz meines Vaters, denn ihn erreichten immer nur unerfreuliche
Botschaften. Die peinlichste Überraschung erlebte mein Vater, als ihm einmal
beim Abendschoppen mein Klassenlehrer erklärte: »Heut habe ich mich über Ihren
Albert einmal richtig gefreut.« Das war Musik in den Ohren meines Vaters, denn
bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihm noch kein Lehrer erklärt, daß er Freude über
mich empfunden habe. Geschmeichelt und entzückt erkundigte sich mein Vater, was
ich Lobenswertes getan hätte. Worauf er die Antwort bekam: »Gar nichts, im
Gegenteil, die anderen Schüler sind endlich einmal zusammengestanden und haben
den Lausbub gründlich verdroschen.« Ich selbst war über meinen schlechten Ruf
eigentlich recht unglücklich, und ich habe mir nachts im Bett gar oft
vorgenommen, von morgen ab fleißig, brav und aufmerksam zu sein. Leider ist nie
etwas daraus geworden! Im übrigen hatte ich diese Anwandlungen meist, bevor es
Zeugnisse gab oder wenn sonst etwas Unangenehmes in der Luft lag. Inzwischen
machte ich die Aufnahmeprüfung in die Realschule. Der Unterricht war auch dort
nicht allzu fröhlich, da die jüngeren Lehrer im Felde standen und die älteren
Semester dadurch überlastet und entsprechend gereizt waren. Auch die Knappheit
an Textilien wurde immer fühlbarer, besonders bei uns Kindern, die wir im
Handumdrehen aus den Kleidern und Schuhen hinauswuchsen.
So erinnere ich mich noch an einen
Schulkameraden, dessen Mutter — der Vater war im Felde — sich nicht mehr anders
zu helfen wußte, als ihm die Schuhe seiner größeren Schwester zu geben, bis
seine eigenen wieder vom Schuhmacher kamen. Nun legte diese Schwester Wert auf
Eleganz und höhere Absätze, was sich auch bei diesen Schuhen nicht verbergen
ließ. Zu allem Unglück mußte der arme Kerl in der Deutschstunde ein Gedicht
aufsagen. Das war von dem Deutschlehrer als Ehre für ihn und Vorbild für uns
gedacht. Als er jedoch draußen vor der Tafel stand und die ganze Klasse
höhnisch grinsend auf die Damenschuhe starrte, verlor der Vortragskünstler
allen Schwung und beim zweiten Vers brach er in Tränen aus.
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