Das Schlitzohr
Lebensmittelkarten nicht abgedeckt werden
konnte. So waren meine Eltern wie jeder andere Gastwirt gezwungen, Lebensmittel
auf nicht ganz einwandfreien Wegen zu beschaffen, nur um die Gäste
zufriedenzustellen. Auch ich wurde oft mit einem Rucksäckle zu einem
befreundeten Metzger geschickt, da Kinder im allgemeinen von den Kontrolleuren
weniger angehalten wurden. Nicht nur wegen der Kontrollen überließ man oft den
Kindern das Hamstern, sondern auch deshalb, weil mitleidige Bauersfrauen einem
Kind eher noch ein paar Eier oder eine Flasche Milch verkauften als den
Erwachsenen. Bei den Erwachsenen waren die Bauern außerdem nicht sicher, ob es
sich nicht um Spitzel handelte, denn für die schwarzen Geschäfte erwarteten sie
hohe Strafen. Das Spitzelwesen war damals stark ausgebaut, und Mißgunst führte
zu vielen Anzeigen und Verdächtigungen. So waren auch Küche und Keller unseres
Hotels mancher Überprüfung ausgesetzt. Daß diese stets erfolglos blieben, war
nicht zuletzt der außerordentlichen Vorsicht meiner Eltern zu danken, denn auf
die wenigsten Mitarbeiter konnte man sich damals noch verlassen. Die lange
Kriegsdauer und der Hunger untergruben allmählich jede Loyalität. Dabei lebte
man im Allgäu noch auf einer glücklichen Insel im Vergleich zu den Großstädten
oder den Industriezentren. Dort waren zu viele Menschen, als daß mitleidige
Bauersfrauen ausreichend helfen konnten.
So hoffte nach 1918, nach der
Revolution und dem Friedensschluß, alles auf eine gründliche Besserung. Davon
spürte man allerdings vorerst wenig. Wenn ich heute versuche, mich an die
Ereignisse von damals zu erinnern, erscheinen sie mir verschwommen, weil uns
Kindern die politischen Vorgänge absolut unklar waren. In der Schule wurde von
der Tagespolitik überhaupt nicht gesprochen. Statt dessen wurde uns die Politik
der Römer, Griechen und anderer Völker bis ins kleinste auseinandergesetzt. Zu
Hause wurde man höchstens mit einem »das verstehst du nicht« abgespeist. Im
Frühjahr 1919 kam das Freikorps Ritter von Epp nach Kempten, und wir sahen denn
auch, wie Männer mit erhobenen Händen auf Lastwagen transportiert wurden. Der Kommandostab
nahm in unserem Haus Quartier, und ich war stolz, daß Wachen vor dem Hause
standen. Daß diese Wachen von uns keinerlei Notiz nahmen und uns ungestört ein-
und ausgehen ließen, fanden wir schockierend. Den kleinen Nervenkitzel einer
Verhaftung oder mindestens einer Leibesvisitation hätten wir wenigstens
erwartet. Sie hätten uns ja nicht gleich erschießen brauchen, obwohl wir das
auch schon ins Kalkül gezogen hatten. Als ich dann in Lindau in den Ferien bei
meinem Onkel Fritz war — er war von Gundelsheim nach Lindau übergesiedelt — ,
erlebte ich die Ankunft eines Güterzuges mit Waffen und Munition, die an die
wehrfähigen Männer ausgegeben wurden. Den Soldatenräten sollte damit ein Ende
bereitet werden. Hocherfreut versuchte ich, mit meinen beinahe 14 Jahren zu den
Waffen zu eilen. Ich erregte allerdings nur mitleidiges Gelächter und wurde
nach Hause geschickt. Als ich meine Entrüstung darüber meinem Onkel mitteilte,
hatte er volles Verständnis. Leider aber nicht für mich, sondern für die, die
mich nach Hause geschickt hatten. So wurde ich an Heldentaten gehindert, die
ich verüben wollte, obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es bei den politischen
Auseinandersetzungen ging.
In dieser Zeit war eine große
Veränderung in meinem Leben durch den Verkauf des Hotels eingetreten. Aus
gesundheitlichen Gründen wollten sich meine Eltern zur Ruhe setzen. Da meine
Mutter den Bodensee sehr liebte, planten sie den Kauf einer Villa bei Lindau.
Bis das geeignete Objekt gefunden war, zogen meine Eltern nach Isny. Der Umzug
fand im Frühjahr statt, und ich wurde bis zum Ende des Schuljahres bei einer
befreundeten Dame in Kempten untergebracht.
Dies waren Monate, in denen ich mich
sehr glücklich fühlte. Das Mittagessen holte ich im Gasthaus »Stadt Hamburg« in
einem Geschirr mit vier Einsätzen. Mit Vergnügen erinnere ich mich daran, wie
dieses Essen von der alten Dame mit großem Interesse begutachtet und
entsprechend kommentiert wurde. Die Dame hatte eine hübsche kleine Bibliothek,
in der ich nach Herzenslust schmökern konnte, was ich reichlich ausnutzte. Mit
so leichter Hand veranlaßte sie mich, meine Schularbeiten zu erledigen, daß mir
dies plötzlich Spaß machte und ich am Ende des Schuljahrs ein erstaunlich gutes
Abgangszeugnis erhielt. Meine Kaninchen durfte ich in
Weitere Kostenlose Bücher