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Das Schlitzohr

Das Schlitzohr

Titel: Das Schlitzohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Schöchle
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Der Lehrer verpaßte
uns eine Stunde Klassenarrest »wegen unkameradschaftlichem Verhalten«. Heute
würde man sagen »wegen seelischer Rohheit«.
    Aber man mag es nennen wie man will,
die Ironie des Schicksals wollte es, daß das arme Opfer den Arrest mit absitzen
mußte, weil es ein Klassenarrest war.
    Dieser Klassenkamerad vertraute mir
eines Tages an, daß er immer Hunger hätte, da seine Mutter mit dem bescheidenen
Sold als Soldatenfrau die Kinder nicht richtig ernähren konnte. Deshalb brachte
ich ihm ein paar Tage später ein paar Knödel mit, die ich, um zu Hause nicht
aufzufallen, einfach in die Jackentasche gesteckt hatte. Er verzehrte sie mit
großem Appetit. Ich freilich bemerkte erst jetzt, daß sich die Soße, in der die
Knödel ursprünglich gelegen waren, mit der Jacke — allerdings nicht zu deren
Vorteil — vereinigt hatte. Diese gute Tat brachte mir drei Jahrzehnte später
tausendfachen Zins. Im Februar 1948, also vor der Währungsreform, machten wir
einen Skiurlaub in Hindelang. Als wir durch Kempten kamen, besuchten wir diesen
Schulkameraden. Er erzählte, daß er die Käsegroßhandlung seines Schwiegervaters
übernommen hatte. Plötzlich erinnerte er sich der Geschichte mit den Knödeln
und bot mir an, mit in sein Lager zu kommen, wo er mir ein riesiges Stück
Schweizerkäse herunterschnitt. Dieser Käse rettete dann auch den ganzen Urlaub,
denn mit den Stammgerichten allein wäre es eine traurige Angelegenheit
geworden.
    Der Personalmangel wirkte sich auch auf
unsere Ferien aus. Unsere Großmutter wurde so dringend im Hotel benötigt, daß
wir nicht mehr in den Ferien nach Isny fahren konnten. Deshalb schickte man uns
in den Ferien zum Bruder meiner Mutter und seiner Frau, zu Onkel Fritz und
Tante Alwine. Der Hintergedanke dabei war, daß ich bei dieser Gelegenheit gute
Manieren und gewandtes Auftreten lernen würde. Denn besagter Onkel war
Teilhaber einer Weltfirma, und die Tante besaß das entsprechende Selbstbewußtsein.
Leider gingen diese Hoffnungen absolut nicht in Erfüllung. Im Gegenteil. So
hatte meine Tante einmal eine Krawatte für mich fabriziert, die so auffällig
war, daß ich im Geiste schon die feixenden Gesichter meiner Klassenkameraden
sah, wenn ich mit diesem Schmuckstück das Klassenzimmer betrat. Ich konnte mir
deshalb beim Empfang der huldvoll gereichten Gabe nur ein »recht nett«
abringen. Worauf die Tante zornblitzend fauchte: »Recht nett, recht nett? Die
ist sogar sehr schön!«
    In den ersten Sommerferien während des
Krieges besuchten wir den Onkel auf dem Heuberg, wo er den Truppenübungsplatz
in Stetten am kalten Markt baute. In späteren Jahren errichtete er ein
Chemiewerk in Neckarzimmern und wohnte in Gundelsheim in einer ehemaligen
Ziegelei und Kalkbrennerei. Mein Onkel war ein großer Tierfreund und wählte
diesen Gebäudekomplex wegen der großen Stallungen und des großen geschlossenen
Hofraumes, denn hier konnte er seinen Geflügel- und Pferdeliebhabereien nach
Herzenslust frönen. Auch ich war hell begeistert, besonders von dem Steinbruch,
der sich hinter dem Hof befand. Da der Kalkofen nicht mehr in Betrieb und
deshalb auch der Steinbruch stillgelegt war, hatte ich in diesem total
zugewachsenen Gebiet ein herrliches Dorado. Hier hatte ich dank meiner üppigen
Phantasie die wunderbarsten Dschungelerlebnisse. Am meisten zog mich die rechte
hintere Ecke an. Hier stürzte ein Wasserstrahl eine etwa 20 m hohe Felswand
hinunter. Das Wasser kam aus einem Brunnentrog, den eine höher gelegene Quelle
speiste. In diesem Trog wusch eines Tages ein Weinbauer seinen Spritzbutten
aus, mit dem er Uraniagrün gespritzt hatte, während ich unter dem Wasserstrahl
spielte. Man stelle sich das Entsetzen meiner Tante vor, als ich grün wie eine
Wasserleiche mit ebenso grünem Anzügle beim Abendessen aufkreuzte. Ich hatte in
meiner Begeisterung für die herrlichen Wasserbauten gar nichts von meiner
Farbänderung gemerkt. Überhaupt konnte ich mich so intensiv in eine Sache
versenken, daß ich meine Umwelt völlig vergaß. Eine Eigenschaft, die mich auch
heute noch in Schwierigkeiten bringt.
    Der Krieg ging weiter und je länger er
dauerte, um so sorgenvoller wurden die Menschen und um so älter unsere Lehrer,
denn fast alle Männer unter 45 Jahren waren eingezogen. Einer von ihnen war als
verbitterter Krüppel zurückgekommen und konnte sich nicht mehr zurechtfinden.
Auch im Hotel wurde die Lage immer schwieriger. Die Gäste verlangten
ausreichendes Essen, was mit den

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