DAS SCHLOSS
Woche lang mit Watte in den Ohren herumgelaufen war.
Nur, dass die Welt um sie herum sich damals völlig normal weitergedreht hatte. Diese hier allerdings versank in völligem Chaos.
Menschen rannten wild durcheinander, dichter Rauch hing in der Luft und setzte sich beißend in Sandys Nase fest. Das Atmen fiel ihr schwer. Panisch und ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war, schaute sie sich um.
An der Stelle, an der sie Lena zurückgelassen hatte, herrschte heilloses Durcheinander. Einige der Marktstände standen in Flammen und überall auf dem Boden lagen menschliche Körper. Einheimische bemühten sich in dem ausgebrochenen Chaos verzweifelt um Hilfe, knieten neben Verletzten oder versuchten vergeblich, weitere Helfer herbeizuwinken. Doch die Mehrheit der Menschen, allen voran die Touristen, flohen panikartig in alle Himmelsrichtungen.
Lena. Wo war Lena?
„Lena! Wo bist du?“ Sie schrie aus Leibeskräften, doch ihre Stimme ging im allgemeinen Getöse unter.
Sie rannte los, mitten in das herrschende Chaos hinein, das beinahe apokalyptische Züge annahm. Menschen lagen am Boden und schrien , hielten sich blutende Wunden oder starrten mit schockgeweiteten Augen auf abgerissene und kreuz und quer herumliegende Gliedmaßen.
Überall war Blut.
Von einer Sekunde zur anderen war in dem beschaulichen Urlaubsort die Hölle losgebrochen.
„Lena? Mein Gott, Lena! Wo bist du?“ Tränen rannen in Strömen über ihr brennendes Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie selbst aus zahlreichen Schnittwunden blutete, spürte jedoch keinerlei Schmerz. Ihr Körper war vollgepumpt mit Adrenalin.
Sie entdeckte Lena wenige Meter von der Leiche des jungen Mannes entfernt, bei dem sie den Skarabäus gekauft hatte. Völlig aufgelöst kniete sie neben ihrer Freundin nieder. Lena zitterte so heftig, dass Sandy das Aufeinanderschlagen ihrer Zähne durch das herrschende Chaos hindurch und trotz ihrer tauben Ohren deutlich hören konnte. Überall war Blut.
Mit zusammengekniffenen Augen sah Lena zu ihrer Freundin auf und versuchte, eine Hand nach ihr auszustrecken, doch ihr Arm fiel kraftlos zu Boden.
Als Sandy bemerkte, dass Lenas Lippen tonlose Worte formten, beugte sie sich zu ihr hinunter.
„Alles wird gut. Glaub mir. Wir bekommen das wieder hin. Ganz bestimmt. Es kommt jeden Augenblick Hilfe.“ Und tatsächlich hörte Sandy in der Ferne das leise Heulen von Sirenen.
„Hör zu“, flüsterte Lena und ihre Stimme klang verzerrt und brüchig. „Ich werde sterben. Halt mich fest. Halt mich einfach fest, bis es vorbei ist.“
„Das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken“, unterbrach Sandy ihre Freundin schluchzend. „Du musst durchhalten.“
„Sandy, ich kann nicht mehr. Es tut so schrecklich weh. Mein Bauch.“
Erst jetzt bemerkte Sandy das klaffende Loch im Bauch ihrer Freundin und ihr wurde übel, als sie erkannte, um was es sich bei den blutigen Schlangen handelte, die daraus hervorquollen. Sie legte Lenas Kopf in ihren Schoß und streichelte über ihr blutverklebtes Haar.
Noch einmal sammelte Lena all ihre Kraft und presste mühsam hervor: „Pass gut auf dich auf, meine Süße. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Und behalte den…“ Sie hustete und ein Schwall Blut quoll aus ihrem Mund. „Er… bringt Glück…“
Die Sirenen wurden lauter und schon konnte Sandy die rotierenden Lichter der Rettungswagen sehen.
Doch in dem Moment, als Lenas Augen nach oben rollten und starr in die grelle Sonne blickten, ohne zu blinzeln, wusste Sandy, dass es zu spät war.
Weinend brach sie zusammen.
KAPITEL 9
Die zahlreichen Narben der Schnitte an Armen und Beinen waren im Laufe der Jahre verheilt.
Die seelischen Narben waren es nicht.
Bis heute war sie nicht über den Tod ihrer besten Freundin hinweggekommen. Und dennoch war sie davon überzeugt, dass dieser Schicksalsschlag sie stark gemacht hatte. Stark genug jedenfalls, um jede Krise zu meistern, die das Leben seither für sie bereitgehalten hatte.
Und genauso würde es auch dieses Mal sein.
Sie würde sich nicht unterkriegen lassen.
Nicht von diesem kranken Arschloch, das sie betäubt und in einen Sarg gesperrt hatte.
Aber was genau war eigentlich passiert?
Sie erinnerte sich, diesen Typ, Kid, an der Bar kennen gelernt zu haben. Sie hatten sich nett unterhalten und irgendwann hatte er vorgeschlagen, in ein ruhigeres Lokal zu wechseln. In seinem Auto hatten sie sich unterhalten.
Über seine Freundin.
Und er hatte
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