DAS SCHLOSS
ihr das Erlebte an der Nasenspitze ansehen. Natürlich war dem nicht so, aber das seltsame Gefühl blieb.
Bis zu diesem Tag hätte sie sich niemals vorstellen können, mit einer Frau intim zu werden. Und schon gar nicht mit ihrer besten Freundin. Auf der anderen S eite: Gab es etwas N aheliegenderes, als eine derartige Erfahrung mit einem Menschen zu machen, mit dem man seit frühester Kindheit durch dick und dünn gegangen war? Mit jemandem, den man so gut kannte, wie niemanden sonst auf der Welt? Mit dem man all seine Geheimnisse geteilt hatte? Selbst die, die man vor seinen Eltern hütete, wie seinen Augapfel? Wahrscheinlich nicht. Und eigentlich war die Erinnerung daran viel zu schön, als dass Sandy sie nun durch überflüssiges Grübeln zerstören wollte.
„Sprecht ihr Deutsch? Ich habe Bruder in Deutschland. Komm und probier Malventee. Bei mir kriegt ihr besten Tee in ganz Ägypten. Kommt. Nur probieren. Nicht kaufen.“ Der junge Mann, der hinter seinem Stand hervortrat, lächelt sie freundlich an und folgte ihnen einige Schritte, als sie einfach weitergingen.
„Nein, vielen Dank. Das ist wirklich nett von Ihnen, aber wir mögen beide keinen Tee.“
„Keinen Tee? Ihr wisst nicht, was ihr verpasst. Kommen und probieren. Ist eine Einladung.“
„Es tut uns leid“, sagte Lena bestimmt. „Aber wir möchten wirklich nicht.“
„Zwei so hübsche Frauen aus Deutschland. Warum so abweisend?“
Lena dreht sich noch einmal um und wollte etwas erwidern, aber Sandy griff nach ihrem Arm und zog sie weiter. „Komm, lass ihn einfach. Sonst schaffen wir es nie, den ganzen Basar anzusehen.“
Im Schatten aufgespannter Tücher schlenderten sie durch die engen Gassen. Einheimische Händler boten allerhand nützliche und weniger nützliche Waren an. Vor allem Touristenschickschnack. Kleidungsstücke, Handtaschen, Gürtel, Imitate berühmter Sportartikelhersteller, Gewürze, Tee, Schmuck. Es schien nichts zu geben, was das Urlauberherz begehrte, was es hier nicht zu kaufen gab. Und jeder Händler versicherte seinen Kunden, ihnen für die beste Ware weit und breit den günstigsten Preis weit und breit zu machen.
Sandy saugte den Duft der Gewürze und Lederwaren in sich auf. Sie genoss den Augenblick und fühlte sich so wohl und unbeschwert, wie schon lange nicht mehr. Am Abend würden sie sich im Hotel in das arabische Restaurant direkt am Strand setzen, gemütlich eine Shisha rauchen und den einen oder anderen Cocktail trinken.
Und danach , dachte Sandy, werden wir sehen, was die Nacht noch so für uns bereithält.
Wieder spürte sie dieses neuartige Kribbeln. Sie blickte sich nach Lena um, die an einem der Stände stehen geblieben war und nun mit schnellen Schritten auf sie zu eilte.
„Schau mal, ich habe etwas gekauft.“
„Gerade eben? So schnell? Hauptsache, du hast dich nicht übers Ohr hauen lassen. Hier musst du feilschen, was das Zeug hält.“
„Nein, das passt schon. Außerdem ist es ein Geschenk für dich, da wollte ich mit dem Typ auch nicht bis aufs Blut verhandeln.“ Sie überreichte Sandy eine kleine Tüte.
„Ein Geschenk? Für mich? Was ist es denn?“
„Schau nach. Ich hoffe, es gefällt dir.“
Sandy öffnete die Tüte und zog etwas heraus. Es war eine Art Amulett. Eine aus Holz geschnitzte Figur mit einer kleinen Öse. „Das ist doch dieser Käfer, oder?“
Lena nickte. „Ein Skarabäus. Exakt. Bei den Ägyptern gilt er als Glücksbringer. Er steht für Leben und Auferstehung. Er wird dich beschützen, wenn ich in den Staaten bin.“
„Vielleicht solltest du ihn dann besser selbst behalten? Glück wirst du dort ganz bestimmt gebrauchen können.“
„Gefällt er dir nicht?“
„Doch, ich finde ihn wirklich toll. Vielen Dank.“ Sandy betrachtete die Figur eine Weile und steckte sie dann in ihren Brustbeutel.
„Gerne.“ Lena sah sich unsicher um. Dann drückte sie Sandy flüchtig einen Kuss auf die Wange. „Dann lass uns weitergehen.“
„Einen Augenblick noch“, sagte Sandy. „Ich muss ganz kurz etwas nachsehen. Wartest du eben?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie zu einem der Stände, die sich ein paar Meter die Gasse hinauf befanden.
Als sie ihr Ziel erreicht hatte, explodierte die Welt um sie herum.
Der Knall war ohrenbetäubend und Sandy nahm die Geräusche der Umgebung plötzlich nur noch durch einen wattierten Schleier wahr. Es war beinahe so wie damals, in der Unterstufe, als sie im Winter nach dem Schwimmen Ohrenschmerzen bekommen hatte und eine
Weitere Kostenlose Bücher