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Das Schloß der blauen Vögel

Das Schloß der blauen Vögel

Titel: Das Schloß der blauen Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Grabes.
    Mein Gott, das könnte Edgar Allan Poe und seiner makabren Phantasie entsprungen sein, dachte Dorian. Das ist alles so unwirklich, das Herz in eine Eisenklammer pressend vor kaltem Grausen. Und draußen scheint die goldrote Abendsonne, duftet der Tannenwald, singen die Vögel, blühen die Blumen …
    »Wie gefällt Ihnen meine Klinik?« fragte Sassner. Stolz schwang in seiner Stimme. Dorian zog die Schultern hoch. Ihn fröstelte auf einmal.
    »Was ich bis jetzt gesehen habe, ist sehr beeindruckend«, sagte er mit ruhiger Stimme. Der Psychiater in ihm besiegte den denkenden und fühlenden Menschen. Alles, was er jetzt tat und sprach, war Therapie, war das Eindringen in den kranken Geist eines Wahnsinnigen, sollte der Sieg der Arztes über einen armen Hirnkranken werden.
    »Das ist der große Speisesaal der Klinik.« Sassner machte eine alles umfassende Handbewegung. »Zur Zeit wird er nicht benutzt. Meine Patienten sind sämtlich in einem desolaten Zustand. Nur die Operationen werden ihnen helfen.«
    »Sicherlich.« Professor Dorian schob die Operationskappe etwas zurück in den Nacken. Es wurde ihm heiß. »Sie haben viele Patienten, Herr Kollege?«
    »Das Haus ist voll.«
    »Ach!« Dorian hob die Schultern. Was werde ich sehen, dachte er mit klopfendem Herzen. Hat er schon alle getötet? Sind die Zimmer dort oben angefüllt mit grausam verstümmelten Leichen? O mein Gott, bloß das nicht! Was er uns bisher geliefert hat, genügte.
    Dorian ging langsam in der Gastwirtschaft umher. Für ihn war diese Stunde eine ebenso große Entscheidung wie für Gerd Sassner. Lag dort oben in den Zimmern ein Leichenberg, würde Dorian nie mehr ein Skalpell anrühren. Er konnte es dann nicht mehr, weil ihm die innere Kraft und das Vertrauen zu sich selbst fehlen würden, wiederum in ein Hirn zu schneiden mit der Drohung im Gewissen: Auch dieser Mensch kann ein Massenmörder werden.
    Ein paar Schritte die Treppe hinauf, ein paar Zimmertüren aufgestoßen … das war vielleicht das Ende des Professor Dorian.
    »Kann ich die Kranken sehen?« fragte Dorian ganz ruhig. Sassner strahlte. Er trug eine Lampe vor sich her und leuchtete in alle Ecken.
    »Aber ja. Bitte, kommen Sie in den Bettentrakt, Herr Professor.«
    Sie stiegen die Treppe hinauf, nur ein paar Stufen, aber Dorian war es, als erkletterten sie den höchsten Berg. Oben im Flur lehnte Luise Sassner zitternd an der Wand. Als der Schein der Lampe sie traf, ließ sie die Hände sinken und sah Dorian flehend an.
    »Mein bestes Stück«, sagte Sassner und nahm Luise an die Hand. Er führte sie zu Dorian und legte dann den Arm um ihre Schulter. »Meine OP-Schwester. Schwester Luise Wadenwickel. Ein toller Name, was? Aber sie kann etwas, sie ist perfekt. Schwester …« Sassner blickte Luise aus strengen Augen an. »Ist im OP alles klar?«
    »Alles klar …«
    Dorian starrte Luise erschrocken an. Sie schüttelte leicht den Kopf, als Sassner wegblickte. Er schien es nicht zu merken. Mit weitausgreifenden Schritten ging er Dorian voraus über den Gang und riß die Tür auf, an die mit Kreide eine große Eins gemalt war.
    »Zimmer eins, ein Dreibettzimmer!« Sassner winkte Dorian, der ihm zögernd folgte. »Drei sehr labile Patienten. Drillinge. Sie müssen nachoperiert werden …«
    Dorians Herz hämmerte wild. Auch ein Arzt, der Jahrzehnte nur mit Geisteskranken gelebt hat, ist ein Mensch, dessen Beherrschung eine Grenze hat, hinter der der seelische Zusammenbruch beginnt.
    Er riß sich das Mundtuch herunter, um freier atmen zu können, und kam sich in seiner weißen OP-Kluft wie in einem Panzer vor. Die Hände in den Gummihandschuhen hingen wie mit Blei gefüllt an ihm herab.
    »Bitte …« sagte Sassner noch einmal mit einer einladenden Geste. Dorian betrat den Raum.
    Die drei Betten waren leer, aber neben den Betten waren mit Kreide jeweils Sassners Konturen an die Wand gemalt. Die Umrisse waren unvollständig, dem einen waren die Beine wegradiert, dem anderen fehlte der Kopf, den dritten hatte Sassner mit zwei Strichen gespalten. Wann er das alles getan hatte, wann er hier an der Wand gestanden hatte, um seine Kreidekonturen zu operieren, wußte Luise nicht. Es mußte in der Nacht geschehen sein. Leise, während Luise schlief, war er aufgestanden und von Zimmer zu Zimmer geschlichen. Er hatte intensiv nachdenkend vor den Umrissen gestanden, einen Schwamm in der Hand, ein Stück Kreide in der anderen, und dann hatte er begonnen, seine stummen Patienten zu verändern, zu

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